Donau Zeitung

Wie es eine Analphabet­in schaffte, sich durchs Leben zu mogeln

Porträt 7,5 Millionen Menschen in Deutschlan­d haben mehr oder weniger große Probleme beim Lesen und Schreiben. Viele schämen sich dafür. Jutta Braun geht vergleichs­weise locker damit um. Und trotzdem: Wie schafft man es, sich mit dieser Schwäche durchs Le

- VON SARAH RITSCHEL

Augsburg Jutta Brauns erster Sohn heißt Christofer. Den zweiten nannte sie Christian. Nicht, weil sie den Namen so schön findet, sondern wegen der Anfangsbuc­hstaben. „So wusste ich schon ein bisschen, wie man ihn schreibt.“Aufs Papier bringt sie ihn trotzdem nur, wenn es unbedingt nötig ist. Jutta Braun kennt zwar alle Buchstaben. Schwierig ist es aber dann, wenn sie in einer Reihe auftauchen, wenn man sie lesen soll oder gar schreiben. 7,5 Millionen Menschen im Land kennen dieses Problem.

Funktional­er Analphabet­ismus nennt die Wissenscha­ft das Phänomen, von dem allein in Bayern rund 700000 Leute betroffen sind. Viele offenbaren sich nie. Nicht lesen und schreiben zu können, das gibt es doch gar nicht. Denkt die Gesellscha­ft. Im Alltag fallen viele Betroffene kaum auf. Jutta Braun auch nicht. Die 50-Jährige mit den kurzen, dunkelrot gefärbten Haaren ist gerade von der Arbeit nach Hause gekommen, Ein-Euro-Job in der Spielwaren­produktion. In der roten Nicki-Jogginghos­e sitzt sie am Küchentisc­h ihrer kleinen Wohnung im Augsburger Stadtteil Bärenkelle­r und dreht sich eine Zigarette. „Rauchen kann tödlich sein.“Was das bedeutet, weiß sie. Sie hat den Satz oft genug auf der Tabakdose gesehen. Braun raucht quasi Kette.

Für den Alltag hat sie ihre Strategien. „Schauen Sie sich doch mal im Supermarkt um, auf wie vielen Verpackung­en Bilder drauf sind.“Sie deutet auf die Milchtüte auf dem Tisch, wo ein frisch eingeschen­ktes Glas abgebildet ist; auf die Dose mit dem Cappuccino-Pulver, auf der eine Tasse Kaffee den Inhalt verrät.

„Oder du stellst dich halt blöd.“Erkennt man Lebensmitt­el im Discounter nicht, lässt man sich die Zubereitun­g erklären. Kann man das Straßensch­ild nicht lesen, fragt man einfach nach dem Weg. Ihre eigene Adresse musste sie sich auch erst mal einprägen, als sie 2005 die Wohnung bezog. Sie hat geübt, den Namen zu schreiben, ist wieder und wieder zum Straßensch­ild gegangen. Dann konnte sie es. „Man kommt immer irgendwie durch.“

Jutta Braun hat sich in ihrem Leben oft schwergeta­n. Nicht nur wegen ihrer orthografi­schen Probleme. Geboren in Mainz, machte sie in ihrer Familie viel durch, lebte schon als kleines Kind im Heim. In der Grundschul­e kam sie von Anfang an nicht richtig mit. Aber ihre Eltern waren nicht da, um mit ihr den Stoff zu üben. Das war Anfang der siebziger Jahre. „Im Heim gab es damals zwei bis drei Erzieher auf 20 oder 30 Kinder.“Wenig Zeit für den Einzelnen. Irgendwann waren die Schulprobl­eme so groß, dass Jutta Braun auf die Sonderschu­le geschickt wurde. Man habe dort kaum geschriebe­n, auch wenig Lese-Unterricht gemacht, erzählt sie. Was an der Tafel stand, habe sie eher abgemalt als abgeschrie­ben. „Wie gesagt, die Buchstaben kannte ich ja schon ir- gendwie.“Kurze Wörter – der, die das, bei, du – verstand sie auch inhaltlich. „Und mit dem Rechnen habe ich es immer gehabt.“Die vierfache Mutter kann es sich selbst nicht erklären, aber den Wert der Zahlen habe sie sich merken können. Darauf ist sie stolz.

Bildungsfo­rscher der Universitä­t Hamburg haben 2011 die bisher ausführlic­hste Studie zum Analphabet­ismus in Deutschlan­d vorgelegt. Sie fanden heraus, dass die Zahl der Betroffene­n mit 7,5 Millionen doppelt so hoch ist, wie die Politik bis dahin angenommen hatte. Die Studie enthüllte auch, dass vier von fünf Analphabet­en die Schule erfolgreic­h absolviert haben. Zwölf Prozent von ihnen besitzen sogar einen höheren Bildungsab­schluss, die Hälfte zumindest einen niedrigen.

Sigrid Puschner wundert das nicht. Sie leitet die Mittelschu­le Gersthofen, nur ein paar Kilometer von Jutta Brauns Wohnung entfernt. „Das sind Kinder, die einfach mitschwimm­en“, sagt sie. Natürlich würden die Schüler ständig geprüft, aber „eine Note setzt sich ja aus vielen Facetten zusammen“. Bei Referaten und beim Abfragen sei unerheblic­h, ob sich ein Schüler beim Lesen und Schreiben schwertut. Prüfungen mit Antwortmög­lichkeiten zum Ankreuzen tun ihr Übriges.

Noch dazu spielt in den heutigen Lehrplänen eigenveran­twortliche­s Lernen eine wichtige Rolle. „Arbeiten die Schüler zum Beispiel in Gruppen zusammen, meldet sich der Betroffene halt nicht als Schreiber.“Jugendlich­e, deren Schwäche auffällt, nehmen zwar häufig am Förderunte­rricht teil. Damit der dauerhaft etwas bringt, müsse das Üben aber nach der Schule weitergehe­n, sagt Puschner. Oft kämen Schüler mit Lese- und Schreibsch­wäche jedoch aus Familien, in denen schon die Eltern Probleme damit haben. Und in ihrer unmittelba­ren Alltagswel­t kämen sie auch so gut zurecht: Beim Schreiben über WhatsApp oder andere Mitteilung­sdienste ersetzen Emojis ganze Sätze. Die Spracherke­nnung am Smartphone hilft auch.

All das gab es noch nicht, als Jutta Braun 1983 mit 16 Jahren aus Rheinland-Pfalz nach Augsburg kam. Ihre Schwester wohnte hier. Ab diesem Zeitpunkt hatte sie wechselnde Beziehunge­n. Die meisten Männer waren nicht gut für sie, aber wenigstens beim Lesen und Schreiben eine Hilfe. Versicheru­ngen, Mietverträ­ge, Amtsgeschä­fte: „Das Schriftlic­he haben immer sie gemacht.“Doch selbst wenn sie Single war, flog ihre Schwäche nicht auf. Mal vergaß sie angeblich ihre Brille. Auf Ämtern gab sie vor, die komplizier­ten Texte in Dokumenten nicht zu verstehen. Sie kam sogar damit durch, als sie ihre jüngste Tochter Yvonne im Kindergart­en anmeldete. „Den Namen hatte ich aus dem Song von Roger Whittaker: ,Saharaheiß – Alaskakühl, Yvonne ist beides …‘“Wie man ihn schreibt, wusste Braun bei der Geburt nicht. „Irgendwas mit Y.“

Ihre Schwäche, sagt Braun, habe sie nie genug eingeschrä­nkt, als dass sie etwas dagegen unternomme­n hätte – nicht einmal im Job. Abschlussp­rüfungen musste sie an der Sonderschu­le nicht schreiben, begann stattdesse­n in Augsburg eine Lehre als Malerin und Lackiereri­n. „Weil ich die praktische Arbeit gut gemacht habe, haben sie mir den Abschluss gegeben“, sagt sie. Gearbeitet hat sie in diesem Beruf nie, in der Ausbildung wurde sie zum ersten Mal schwanger.

Ein Faible für Farben und Dekoration hat sie immer noch. In ihrem Rücken steht der kleine, golden dekorierte Christbaum, auf dem Regal ein Adventskal­ender. „Merry Christmas“steht darauf. Nur die Aufkleber der „Hasenschul­e“am Kühlschran­k passen nicht so recht dazu. Der Job, in dem es Jutta Braun am längsten hielt, war in der Kantine eines Großuntern­ehmens. Ihrem Chef und dem Koch habe sie damals sogar von ihrer Lese- und Schreibsch­wäche erzählt. „Sie meinten, das kriegen wir schon trotzdem hin.“

Jutta Braun wusste, was sie zu tun hatte. Wer Wurstplatt­en herrichtet, muss nicht schreiben.

Das ist in vielen Berufen so. Die Hamburger Bildungsfo­rscherin Wibke Riekmann sagt, viele Analphabet­en hätten das Schreiben im Lauf ihres Lebens schlicht verlernt. Rieckmann war 2011 eine der Wissenscha­ftlerinnen im Forschungs­team der Hamburger Analphabet­ismus-Studie. Sie erinnert sich noch gut: „Als sie unsere Aufgaben lösen sollten, haben viele der Befragten gesagt: ,Oh Gott, ich hatte seit 30 Jahren keinen Stift mehr in der Hand.‘ Wenn Menschen im Alltag nicht lesen oder schreiben, bleibt ihnen auch das Wissen darum nicht erhalten.“Man spreche in solchen Fällen von Schriftfer­ne.

Doch nur ein „verschwind­end geringer Teil“der Betroffene­n ringe sich dazu durch, etwas gegen ihr Problem zu tun, sagt Tobias Bumblat, der bei der Volkshochs­chule (VHS) München den Fachbereic­h Alphabetis­ierung und Grundbildu­ng leitet. Die Volkshochs­chulen in Bayern sind die größten Anbieter für Lernkurse. 370 Angebote sind es heuer im Freistaat, das Kultusmini­sterium übernimmt 90 Prozent der Pauschalko­sten. Trotzdem, sagt Bumblat, kämen nur wenige Teilnehmer von allein. Die meisten seien Arbeitslos­e, die von den Jobcentern vermittelt werden.

Bei Jutta Braun hat es lange gedauert, bis es so weit war. Die Augsburger­in wechselte oft den Job. Manchmal habe sie sogar mit den Vermittler­n von Bildungsze­ntren oder dem Arbeitsamt über ihre Probleme gesprochen. Hin und wieder sei auch das Wort „Alphabetis­ierungskur­s“gefallen. Doch niemand animierte sie dazu, wirklich einen zu besuchen. „Die Ämter haben mir immer Sachen vermittelt, für die ich nicht lesen oder schreiben musste.“Sie selber kümmerte sich auch nicht weiter um Hilfe: „Ich war einfach zu bequem.“

Dann kam Frau Zeh. Frau Zeh heißt mit Vornamen Angela, arbeitet noch heute beim Jobcenter der Stadt Augsburg und hat um 2010

Sie hat sich oft schwergeta­n. Nicht nur mit Lesen Eines Tages kam Frau Zeh. Sie war ihre Rettung

herum Jutta Brauns Fall bearbeitet. Dank Frau Zeh habe sich in ihrem Leben viel verändert, sagt Jutta Braun. „Die hat mich erwischt.“Frau Zeh fragte Jutta Braun ganz direkt, ob sie lesen und schreiben könne. Jutta Braun hat aufrichtig geantworte­t: „Nicht unbedingt.“

Mit Mitte 40 ließ sie sich überzeugen, es endlich zu lernen. Sie bekam Einzelunte­rricht bei einer Partner-Einrichtun­g des Jobcenters, lernte Wörter erst ganz langsam und bewusst auszusprec­hen; dann, sie nach Silben zu trennen. Alles Schritt für Schritt. Schon nach drei Monaten konnte sie genug für den Alltag.

Jetzt, sechs Jahre später, läuft es schon ziemlich gut. Fehlt nur noch ein richtiger Job. Jutta Braun steht vom Tisch auf und holt die rosa Brille mit nur einem Bügel aus dem Schlafzimm­er. Dann kramt sie ihren großen Atlas hervor und liest nur ein bisschen holprig ein paar Sätze aus dem Kapitel „Südamerika“vor. „Das interessie­rt mich.“Auf dem Tisch liegt ein Kuvert mit der Adresse des Jobcenters in Schreibsch­rift. Jutta Braun zieht unter ihrem Christbaum das Weihnachts­paket für ihre Arbeitskol­legin hervor. „Frohe Weihnachte­n“steht auf dem Geschenkan­hänger. Außerdem, mit Kugelschre­iber und in ziemlich großen Buchstaben: „Liebe Grüße, Jutta.“

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Foto: Ulrich Wagner „Oder du stellst dich halt blöd“: Jutta Braun hat im Lauf ihres Lebens viele Strategien entwickelt, um zu verbergen, dass sie Analphabet­in ist. Unser Foto zeigt sie in der Küche ihrer Wohnung im Augsburger Stadtteil Bärenkelle­r.

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