Warum sind wir so gleichgültig?
Interview Altbischof Wolfgang Huber kritisiert die Tatenlosigkeit der Welt angesichts des Krieges in Syrien. Der frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland spricht dabei auch über die Folgen der Flüchtlingskrise
Herr Huber, Tag für Tag erreichen uns schreckliche Bilder aus Aleppo. Wie gehen Sie persönlich damit um? Huber: Die Bilder sind erschütternd. Bei mir löst das Gefühle der Trauer und der Scham aus, die ich schon 1994 bei den Berichten über den Völkermord an der Minderheit der Tutsi in Ruanda empfunden habe: ein Gefühl, dass wir fast tatenlos zusehen, wie Assads Truppen die eigene Bevölkerung hinmetzeln. Gleichzeitig können wir jedoch nicht sagen, wer anstelle von Assad als demokratische Gegenkraft in Frage kommen könnte.
Nehmen auch Sie wahr, dass angesichts der humanitären Katastrophe dort eine Art von resignierter Gleichgültigkeit um sich greift? Huber: Fatal ist, dass zum Teil erst berichtet wird, wenn die Menschen als Flüchtlinge bei uns ankommen. Und das geschieht auch noch undifferenziert. Sie kommen als Bürgerkriegsflüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention, man redet aber nur allgemein von Asylbewerbern.
Es gibt kaum Demonstrationen. Jetzt heißt es sogar, dass die Spendenbereitschaft zurückgeht. Was ist mit uns los? Huber: Es wäre notwendig, dass die Politik Signale aussendet, was getan werden soll. Der deutsche Theologe Dietrich Bonhoeffer, der seinen Widerstand gegen die Nazis mit dem Leben bezahlen musste, hat einmal gesagt: „Es ist wichtig, den Opfern beizustehen, man muss aber auch bereit sein, dem Rad in die Speichen zu greifen.“
Es heißt, die Vereinten Nationen und insbesondere der Westen hätten versagt und die eingeschlossenen Menschen im Stich gelassen. Trifft dieser Vorwurf? Huber: Der UN-Sicherheitsrat hat tatsächlich versagt. Es macht mich zudem traurig, dass es keine Möglichkeiten zu geben scheint, die Kriegsverbrecher zur Rechenschaft zu ziehen.
Was hätte in Syrien konkret geschehen müssen? Huber: Man hätte zumindest eine internationale Blauhelmtruppe aufstellen oder auf andere Weise eine Schutzzone schaffen müssen, die die Kriegsparteien voneinander getrennt hätte. Im Ruanda-Konflikt gab es Blauhelme in der Nähe, doch sie wurden abgezogen. So kam es zur Katastrophe. In Syrien bräuchte man darüber hinaus ein klares politisches Konzept. Aber Bedingung für dessen Umsetzung wäre es, zunächst die Gewalt zu stoppen.
Ist das realistisch? Huber: Es gibt Beispiele. Im Balkankrieg hat der Westen eingegriffen und gleichzeitig viele Flüchtlinge aufgenommen, die übrigens zu einem großen Teil wieder in ihre Heimat zurückgekehrt sind.
Abzug gestoppt Syriens Regierung hat die Evakuierung der Rebellen gebiete im Osten der Stadt Aleppo nur einen Tag nach Beginn wieder ge stoppt. Das Regime in Damaskus und die Opposition gaben sich dafür am Freitag gegenseitig die Schuld. Russ land als enger Verbündeter Syriens erklärte den Transport von Kämpfern und deren Familien aus Ost Aleppo Russische Kampfjets haben die Bevölkerung gnadenlos bombardiert. Dennoch hat Präsident Wladimir Putin eine beachtliche Zahl von Bewunderern in Deutschland. Woran liegt das? Huber: Ich habe den Eindruck, dass viele Deutsche Furcht davor haben, dass sich die Beziehungen zu Russland verschlechtern. Aus diesem Grund geraten die aggressive Politik Moskaus in der Ukraine und der Militäreinsatz in Syrien in den Hintergrund. Dass den „Putin-Verstehern“das Schicksal der Menschen in Syrien generell gleichgültig ist, glaube ich nicht. Ich bin der Meinung, dass Deutschland und der Westen in den Fällen Ukraine und Syrien der notwendigen Klarheit nicht ausweichen können. Man hätte eindeutig sagen müssen, dass Russland das Völkerrecht in Syrien bricht und das Leid der Zivilbevölkerung, darunter vieler Kinder, in Kauf nimmt.
Wir haben ohne Zweifel sehr viele Flüchtlinge aufgenommen. Ist unsere Gesellschaft damit überfordert? Huber: Faktisch nicht. Aber es gibt bei vielen eine mentale Überforderung. Das spielt sich in den Köpfen ab. Aber auch das ist eine Realität. Natürlich können wir nicht unbegrenzt Menschen aufnehmen und unbegrenzt Hilfe leisten. Mich stört nur, dass einige sagen, es würden jedes Jahr 800 000 neue Flüchtlinge kommen, und so Schreckensszenarien ausmalen. Es ist ganz wichtig, zwischen Asylbewerbern, Kriegs- für beendet. Die syrische Armee habe zudem ihren Einsatz zur Rückerobe rung der Rebellengebiete abgeschlos sen, teilte das Verteidigungsministe rium in Moskau mit. Alle Frauen und Kinder aus den von der Opposition kontrollierten Vierteln hätten Ost Alep po verlassen, erklärte das Verteidi gungsministerium in Moskau weiter. „Zurück bleiben Gruppen radikaler und unversöhnlicher Militanter, die auf syrische Truppen feuern.“
Widersprüchliche Meldungen tivisten erklärten hingegen, zehn tausende Zivilisten warteten dort noch darauf, aus der Stadt gebracht zu werden. „Als ich ging, waren dort tau sende Familien mit Frauen und Kin dern“, berichtete ein Aktivist, der Ost Aleppo bereits verlassen hat. Frank reichs Präsident François Hollande hat te beim EU Gipfel in Brüssel gesagt, in Ost Aleppo seien noch 50 000 Men schen eingeschlossen. UN General sekretär Ban Ki Moon hat eine sofortige Wiederaufnahme der Evakuierungs aktionen gefordert. (dpa) und Arbeitsemigranten zu unterscheiden, um die Ströme zu kanalisieren. Ich habe den Eindruck, bei uns sollen alle durch das Nadelöhr Asyl gepresst werden. Das ist inakzeptabel.
Frauen und Männer, die in ihrer Freizeit mit großem Engagement bei Flüchtlingsprojekten mitarbeiten, werden immer öfter attackiert. Im Internet äußert eine wachsende Zahl von Bürgern offen rassistisches Gedankengut. Kippt die Stimmung? Huber: Solche Vorfälle muss man konsequent verfolgen. Den Hunderttausenden, die helfen, die Situation zu meistern, gebührt Respekt und Dank. Übrigens funktioniert das nicht nur in den Städten, sondern zum Teil auch besonders gut in ländlichen Regionen. Auch in der evangelischen Kirche gibt es Kritik daran, dass die sogenannte Wohnsitzauflage für Flüchtlinge gegen das Menschenrecht auf Niederlassungsfreiheit verstoße. Huber: Das sehe ich nicht so. Wir fordern schließlich immer wieder, dass es im europäischen Maßstab eine faire und gerechte Verteilung der Flüchtlinge geben müsse. Warum soll das nicht auch bei uns in Deutschland gelten? Auch bei uns ist es sinnvoll, dass die Lasten gerecht verteilt werden. Nur so bewahren wir auf längere Frist die Fähigkeit, Hilfe zu leisten.
Was muss jetzt geschehen, um zu verhindern, dass sich die Atmosphäre im Land weiter vergiftet? Huber: Wir müssen mehr miteinander reden. Die Atmosphäre wird daflüchtlingen durch geprägt, dass wir reden. Nicht zuletzt die Kirchen haben die Aufgabe, durch besonnene Gespräche mitzuhelfen, dass die Polarisierung überwunden wird. Ich nenne das Beispiel eines kleinen Orts, in dem 90 Flüchtlinge auf einmal ankamen. Das war keine einfache Situation. Heute sind es noch 60, die zum Teil bereits eine eigene kleine Wohnung bezogen haben. Viele Einwohner kennen die Flüchtlinge, die Lage ist entspannt. So kann es funktionieren.
Die schwierige Evakuierung Aleppos „Wer Fakten nicht benennt, der trägt zu postfaktischen Zuständen bei.“
Wolfgang Huber „Klar habe ich manchmal auch Angst. Aber Gott sei Dank hat die Angst nicht mich.“
Haben wir nicht zu lange unsere Augen verschlossen vor den Problemen wie Kriminalität und handgreifliche Frauenfeindlichkeit von jungen Männern, die aus islamisch dominierten Ländern zu uns kommen? Huber: Die Probleme sind durch Fehler der Politik, aber auch der Medien entstanden. Dort hat man aus Angst vor Pauschalverurteilungen darauf verzichtet, die Probleme klar zu benennen. Leider gibt es Islamisten, es gibt ein problematisches Frauenbild und Übergriffe bei einem Teil der Menschen, die zu uns kommen. Beispiel Freiburg: Es ist völlig falsch, darauf zu verzichten, die Herkunft des Täters zu nennen. Der Freiburger Oberbürgermeister Dieter Salomon hat es genau richtig gemacht. Er hat keinen Bogen darum gemacht, dass der Tatverdächtige ein afghanischer Flüchtling sei, aber im gleichen Atemzug hinzugefügt, dass natürlich nicht alle Afghanen Vergewaltiger und Mörder sind. Wer Fakten nicht benennt, der trägt zu postfaktischen Zuständen bei.
Interview: Simon Kaminski
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Wolfgang Huber wurde 1942 in Straßburg geboren. Der Theologe war von 1994 bis 2009 Bischof der evangeli schen Kirche Berlin Brandenburg. In der Zeit von 2003 bis 2009 fungierte er als Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland. Bundespräsident Joachim Gauck im Berliner „Tagesspiegel“
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