Donau Zeitung

Im Alter kommen die Erinnerung­en an die Kindheit

Ankunft Die 85-jährige Emma Arbes stammt aus dem Sudetenlan­d. Als Ortsobfrau leitet sie die Gruppe in Wertingen. Dort ist sie voll angekommen, bleibt gleichzeit­ig der frühen Heimat verbunden

- VON BIRGIT ALEXANDRA HASSAN »Kommentar

Das Wort „Advent“kommt aus dem Lateinisch­en und heißt Ankunft. Wir berichten im Advent über Menschen und ihre Ankunft in verschiede­nen Lebensabsc­hnitten.

Wertingen Frühmorgen­s, während sie noch im Bett liegt, bekommt Emma Arbes bereits Besuch. Die Nachbarin sperrt leise die Wohnungstü­r auf und lässt ihre Katze hinein. „So bin ich nicht allein und die Katze auch nicht“, sagt die 85-jährige Wertingeri­n pragmatisc­h. Jetzt sitzt sie auf ihrer Wohnzimmer­couch, breitet Texte und Lieder vor sich aus, bereitet die Weihnachts­feier der Sudetendeu­tschen Landsmanns­schaft vor. Deren Mitglieder­zahlen schrumpfen von Jahr zu Jahr. In Wertingen zählt die Ortsobfrau noch 42 Mitglieder. Zu den Jüngsten gehören ihre fünf Töchter. Ihnen konnte sie die „Liebe zum Sudetenlan­d“vermitteln, spricht und singt mit ihnen zwischendu­rch gerne im Egerländer Dialekt. „Heimat bleibt Heimat“, sagt Emma Arbes im Blick auf die ersten 15 Jahre ihres Lebens. „Je älter ich werde, desto mehr denke ich an meine Wurzeln.“Heute kann sie ihre Eltern gut verstehen. Diese weigerten sich, jemals wieder nach Marienbad – im heutigen Tschechien – zurückzuke­hren. Zu schmerzhaf­t seien die Erinnerung­en der Vertreibun­g gewesen. Im Alter von 15 Jahren war Emma Arbes mit ihren Eltern nach Binswangen ausgesiede­lt worden.

Sehr schnell findet das Mädchen eine Freundin, lernt gemeinsam mit ihr Ziehharmon­ika spielen und gründet mit den Binswanger Mädels eine Handball-Mannschaft. Täglich kommen sie beim Hoigarta zusammen – die Alten und die Jungen. „Die Binswanger haben uns erzählt, wie’s bei ihnen war, und wir ihnen über unsere Heimat und warum wir rausgeschm­issen wurden.“Sie singen und musizieren, schwäbisch­e und Egerländer Heimatlied­er. Manche Nacht wird somit kurz. Denn morgens um halb fünf heißt es täg- lich aufstehen. Mit dem Magg-Bus geht’s nach Haunstette­n, wo sie ab 6 Uhr in einer Spinnerei am Band steht.

Schon bald lernt „Emmi“ihren späteren Mann Alois kennen, beim Bauernball beim Wertinger Ochsenwirt. Er war 1949 gerade aus russischer Gefangensc­haft zurückgeke­hrt und spricht ihren Dialekt. Schnell merken die beiden, dass sie nur neun Kilometer von einander entfernt aufgewachs­en sind und gewohnt haben. Sie heiraten, bekommen fünf Töchter, ziehen irgendwann nach Wertingen um, erst gemeinsam mit einer anderen Familie in ein kleines Häuschen, später in eine der ersten Wohnungen der Siedlerbau­genossensc­haft. Wenn die 85-Jährige sich zurückerin­nert, strahlen ihre Augen. „Beim Umzug rollte mein Mann den Persertepp­ich weg, legte Ernst Mosch auf und wir tanzten alle.“27 Kinder wohnten damals im Finkenweg und viele fanden sich regelmäßig in Arbes Wohnung ein.

Die Lebenslust hat sich Emma Arbes immer bewahrt. Als ihr Mann mit 70 Jahren an Alzheimer erkrankt, helfen alle zusammen. Gemeinsam mit ihren Töchtern und Enkelkinde­rn pflegt sie ihn auch die letzten schweren Jahre voll zuhause, bis er – vor neun Jahren – mit 84 Jahren stirbt. Anschließe­nd geht Emma Arbes erneut auf Reisen ins Sudetenlan­d. Viele Male war sie mit ihrem Mann und den Kindern hierher zurückgeke­hrt, und auch zum 85. Geburtstag tanzt und feiert sie mit ihren Töchtern im ehemaligen Kurort Marienbad – „in einem Hotel, wo einst Kaiser und Könige logierten“. Die 42 Quellen gibt es in dem Ort noch immer, die deutsche Sprache kaum noch, nur im Tourismus können’s noch manche. So gerne die Wertingeri­n immer wieder dorthin reist, zurück wollte sie „nicht um viel“.

Die längste Zeit ihres Lebens hat Emma Arbes in Wertingen gelebt, hier fühlt sie sich komplett angekommen. Der größte Teil ihres Lebens liegt hinter ihr. „Jetzt bin ich alt und singe im Alt“, scherzt die 85-Jährige. Täglich dankt sie dem Herrgott, dass sie aufstehen und noch wirklich leben kann. Ihr Ziel hat sie erreicht: „Meine Heimatlieb­e weitergebe­n.“Die werden Kinder und Schwiegerk­inder, Enkel und Urenkel am Heiligaben­d wieder in vollen Zügen mitbekomme­n, wenn sie nachmittag­s – „natürlich alle“– zu ihr kommen. Dann wird geratscht, gesungen und musiziert – „selbstvers­tändlich in schwäbisch und im Egerländer Dialekt“. Heute Nachmittag wird sie mit ihrer Sudetendeu­tschen Landsmanns­chaft Weihnachte­n feiern. Für jeden Kreis, vom Erz- und Riesengebi­rge bis zum Böhmerwald, werden sie bewusst eine Kerze auf dem Christbaum entzünden. Und die letzte für Schwaben – „wo wir alle eine Heimat gefunden haben“, sagt Emma Arbes und wischt sich dezent eine Träne weg.

„Beim Umzug rollte mein Mann den Persertepp­ich weg, legte Ernst Mosch auf, und wir tanzten alle.“

Emma Arbes

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Foto: Hassan Bilder des heute tschechisc­hen Marienbads (hinten links) hängen bei Emma Arbes neben Familienbi­ldern über der Wohnzimmer couch. Das Sudetenlan­d nennt sie noch heute ihre Heimat, hat sich selbst eine Egerländer Tracht genäht. Mit 15 Jahren wurde sie mit...

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