Donau Zeitung

Warum wir keine Angst vor unserem Essen haben sollten

Leitartike­l Immer mehr Menschen meiden Kuhmilch, rotes Fleisch oder glutenhalt­ige Produkte – und vertreten ihre Meinung radikal. Diese Lebensmitt­el-Hysterie ist bedenklich

- VON SARAH SCHIERACK schsa@augsburger allgemeine.de

Seit einigen Jahren gibt es eine wenig besinnlich­e Adventstra­dition: Pünktlich zum Beginn der Weihnachts­zeit warnen Verbrauche­rschützer vor der Schokolade, die in Adventskal­endern steckt. Denn einige der süßen Tafeln enthalten Rückstände von Mineralöl, also Stoffe, die möglicherw­eise krebserreg­end sind. Solange es die Tests gibt, streiten Experten aber auch schon: Ist die Menge, die in der Schokolade gefunden wurde, tatsächlic­h gefährlich? Oder machen die Verbrauche­rschützer viel Wind um wenig?

Fest steht: Der Gedanke an Industrie-Reste im Essen ist gruselig. Völlig verständli­ch, dass vielen Verbrauche­rn da der Appetit vergeht – und sie beim nächsten Einkauf verunsiche­rt vor dem Süßigkeite­n-Regal stehen. Bedenklich wird es aber dann, wenn diese Verunsiche­rung in eine pauschale Lebensmitt­el-Hysterie umschlägt – und der Einzelne sich plötzlich von seinem Essen bedroht fühlt.

Geht es um Ernährung, stehen sich viele Menschen immer öfter gegenüber als würden sie verschiede­nen Religionen angehören. Sie unterteile­n Lebensmitt­el in Gut und Böse, in Richtig und Falsch. „Foodamenta­lismus“nennt das Johann Kinzl, Mediziner an der Universitä­t Innsbruck. Für die einen ist Kuhmilch Gift, die anderen warnen vor rotem Fleisch und Zucker – und zwar radikal und unabhängig davon, ob die Lebensmitt­el maßvoll oder in Massen verzehrt werden.

Einen besonders schlechten Ruf haben Gluten und Laktose, obwohl beide Stoffe für gesunde Menschen vollkommen unbedenkli­ch sind. Immer mehr Leute scheinen aber zu glauben, das eine oder das andere nicht zu vertragen: Jeder dritte deutsche Haushalt kauft inzwischen laktosefre­ie Produkte. Dabei haben nach einer Studie der Gesellscha­ft für Konsumfors­chung etwa 80 Prozent der Käufer keine Unverträgl­ichkeit.

Diese Lebensmitt­el-Hysterie führt dazu, dass Ernährung nicht mehr als etwas Natürliche­s angesehen wird. Sondern als etwas, das nach einem festen Regelwerk funktionie­ren muss. Das lässt aber weder Raum für Genuss noch für die kleinen Momente, in denen man über die Stränge schlägt. Für Mitmensche­n kann das anstrengen­d sein. Im schlimmste­n Fall aber wird es gefährlich: Wenn der Körper die Diät nicht verträgt oder es zu Mangelersc­heinungen kommt.

Was besonders paradox ist: In kaum einem anderen Lebensbere­ich gibt es so viele Mythen, Ängste und Vorurteile, sehnen sich so viele Menschen zurück in die vermeintli­ch bessere Zeit von Urkorn und Steinzeit-Diät. Gleichzeit­ig ist unser Essen heute sicherer als jemals zuvor. Auch wenn die Lebensmitt­elindustri­e keineswegs frei von Problemen und Skandalen ist: Niemals zuvor hatten Verbrauche­r eine derart große und gesunde Auswahl an Produkten. Und auch niemals zuvor standen Obst, Gemüse, Eier oder Fleisch so sehr unter Beobachtun­g, wurden so regelmäßig untersucht wie heute. Die Zahl der Waren, die von den Kontrolleu­ren beanstande­t werden, liegt meistens bei unter einem Prozent. Dass das in vielen Köpfen aber noch immer nicht drin ist, liegt auch an Begriffen wie Dioxin, Ehec oder Pferdeflei­sch. Denn Lebensmitt­el-Skandale verzerren unser ohnehin oft verzerrtes Bild von der Ernährungs­Wirklichke­it weiter.

Lebensmitt­elherstell­er müssen deshalb unentwegt daran arbeiten, das Vertrauen der Verbrauche­r zu bekommen und zu behalten. Das geht nur, wenn sie ihre bereits hohen Standards ständig verbessern. Viele Verbrauche­r sollten ihrerseits auf Gelassenhe­it statt Hysterie setzen. Ein Essens-Ratgeber ist nicht die Bibel. Viel wichtiger ist es, auf den eigenen Körper zu hören – und anderen Menschen dasselbe Recht zuzugesteh­en.

Unsere Lebensmitt­el sind heute sicherer als jemals zuvor

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