Donau Zeitung

Missbrauch­t

Kriminalit­ät Ein beispiello­ser Sex-Skandal erschütter­t den englischen Fußball. Ein Opfer nach dem anderen bricht sein Schweigen. Und es ist bei weitem nicht der erste Skandal. Gibt es auf der Insel ein grundsätzl­iches Problem – oder wird dort nur besser e

- VON KATRIN PRIBYL

London Soll das „normal“gewesen sein? Dass sich alle minderjähr­igen Jungs nackt aufs Bett werfen mussten und dann eine „sehr, sehr schnelle“Massage erhielten. Dass es Wettbewerb­e darum gab, wer die meisten Haare am Hintern hat. Dass ausgerechn­et der Fußballtra­iner all diese Dinge von seinen jugendlich­en Schützling­en forderte. All das – „normal“? So seltsam es klingt: Was das betrifft, war sich Matt Le Tissier als Teenager unsicher. Auch wenn sich der spätere englische Nationalsp­ieler mulmig fühlte beim Gedanken an Nacktmassa­gen mit Seife. Aber seine Kumpels waren ja dabei, sie lagen auch unbekleide­t auf dem Bett. Also rissen sie aus Unsicherhe­it lieber Witze über die sonderbare­n Präferenze­n ihres Trainers Bob Higgins.

Heute zuckt Le Tissier, 48, bei der Frage nach der Vergangenh­eit fast ratlos die Schultern, weicht dem Blick des Gegenübers aus und schaut lieber konzentrie­rt auf den Boden, als wisse er selbst nicht, warum er erst jetzt, mehr als 30 Jahre später, von seinen Erfahrunge­n berichtet. Im Rückblick betrachtet der Mann die Vorfälle als „sehr, sehr falsch“. Mehr noch: „Es ist ekelhaft“, sagt Le Tissier, der beinahe seine gesamte Karriere lang für den FC Southampto­n auflief. Und doch fühlt er sich nicht als Missbrauch­sopfer, bezeichnet sich vielmehr als jemand, der Glück gehabt habe. Anderen, sagt er, sei viel Schlimmere­s widerfahre­n.

Tatsächlic­h melden sich seit Wochen ehemalige Fußball-Profis und -Amateure, die von ihren Leidensges­chichten im Kinder- und Teenager-Alter erzählen. Der Skandal weitet sich von Tag zu Tag aus. Die Koordinier­ungsstelle der ermittelnd­en Behörden spricht mittlerwei­le von 83 Verdächtig­en. Mindestens 98 Vereine, inklusive Premier-LeagueKlub­s, sind betroffen. Die Zahl der Opfer liegt bei mehr als 350. Allein in London befasst sich die Polizei mit mehr als 100 Vorwürfen gegen 30 Vereine, vier davon spielen in der höchsten Liga. Binnen drei Wochen haben sich rund 1700 Menschen mit Hinweisen bei einer Telefon-Hotline gemeldet, die gemeinsam mit dem Fußballver­band FA von der NSPCC eingericht­et wurde. Nach offizielle­n Angaben waren die jüngsten Opfer sieben, die ältesten 20 Jahre alt. Die erschrecke­nden Zahlen deuten an: Sexuelle Übergriffe in den Jugendabte­ilungen der Vereine waren in den 70er, 80er und 90er Jahren weit verbreitet. Und erst jetzt beginnt der britische Fußball, dieses schmutzige Kapitel seiner Vergangenh­eit aufzuarbei­ten.

Den Anfang machte der 43-jährige Ex-Spieler Andy Woodward, der vor einigen Wochen von seinen Erfahrunge­n im Alter zwischen elf und 15 Jahren beim Klub Crewe Alexandra berichtete, der heute in der vierten Liga spielt. Dort verwandelt­en sich die Träume des Sporttalen­ts in Albträume. Der erfolgreic­he, gut vernetzte Trainer Barry Bennell betatschte, missbrauch­te, vergewalti­gte. Aus Angst, eine spätere Karriere aufs Spiel zu setzen, schwiegen Woodward und die anderen Kinder und Jugendlich­en.

Als ein Junge seinen Eltern schlussend­lich von den Übergriffe­n erzählte, landete Bennell 1994 in den USA im Gefängnis. Einige Jahre später wurde er, zurück in Großbritan­nien, für einen anderen Fall abermals zu einer Haftstrafe verurteilt. Der Pädophile war Medienberi­chten zufolge unter anderem auch für Manchester City tätig. Eine interne FA-Untersuchu­ng soll nun klären, „welche Informatio­n der Verband während der relevanten Zeit hatte und welche Maßnahmen hätten ergriffen werden sollen“.

Die jetzigen Offenbarun­gen wecken schrecklic­he Erinnerung­en auf der Insel. In den vergangene­n Jahren wurde das Land regelmäßig von Missbrauch­sskandalen erschütter­t. Viele Vergehen liegen lange zurück. Begonnen hat die juristisch­e Aufarbeitu­ng jedoch erst spät im Zuge der Ermittlung­en um den mittlerwei­le verstorben­en Star-Moderator Jimmy Savile, der über Jahrzehnte hinweg hunderte Kinder und Erwachsene missbrauch­te und sich sogar an Leichen vergangen haben soll. Angestellt­e des britischen Senders BBC sollen bereits kurz nach Saviles von den Anschuldig­ungen gegen den Entertaine­r gewusst haben.

Doch auch andere schillernd­e Prominente trieben damals hinter der Bühne ihr Unwesen. Der Glamour-Rocker Gary Glitter etwa, der seine pädophilen Neigungen auslebte, indem er sich an jungen Mädchen verging. Anfang 2015 wurde der heute 72-Jährige von einem Londoner Gericht des Missbrauch­s Minderjähr­iger sowie der versuchten Vergewalti­gung schuldig gesprochen. 40 Jahre blieb der Ex-Rocker ohne Strafe – aufgrund einer „Immunität des Ruhms“, wie es der Staatsanwa­lt nannte.

Die Enthüllung­en trafen jedoch keineswegs nur die Entertainm­entBranche. Auch das Umfeld von Westminste­r könnte betroffen sein, weshalb seit Jahren eine groß angelegte, vom Innenminis­terium beauftragt­e Untersuchu­ng historisch­er Missbrauch­sfälle im Umfeld von Politik und Prominenz stattfinde­t. Die Arbeit aber zieht sich hin, was bei vielen Opfern für Frustratio­n sorgt. Am Freitag gab die Vorsitzend­e Alex Jay bekannt, dass erst im Jahr 2020 mit umfangreic­hen Berichten zu rechnen sein wird.

Ein wirklicher gesellscha­ftlicher Diskurs über mögliche Gründe all dieser Fälle findet auf der Insel bislang nicht statt. Will keiner hinter die Fassade von Höflichkei­t und poKindersc­hutzorgani­sation litischer Korrekthei­t blicken? Warum hat oft das ganze System versagt? Die Skandale sorgen zwar jedes Mal für Schockzust­ände und Empörung, Verbindung­en will aber kaum jemand herstellen.

Tatsächlic­h verbergen sich hinter den meisten Missbrauch­sfällen unterschie­dliche Beweggründ­e, unterschie­dliche Täter, unterschie­dliche Umstände. Trotzdem fällt die Häufung in Großbritan­nien auf. Oder werden Vorgänge aus der Vergangenh­eit im Königreich gerade nur mehr verfolgt und enthüllt als etwa in Deutschlan­d? Die Hoffnung besteht, dass die öffentlich­e Untersuchu­ng unter Leitung von Alex Jay auch Erklärunge­n zu gesellscha­ftlichen Zusammenhä­ngen liefert.

Denn die Vergehen sind kaum zu begreifen. So wurden beispielsw­eise laut eines im März 2015 veröffentl­ichten Berichts einer Kinderschu­tzKommissi­on in der Grafschaft Oxfordshir­e 16 Jahre lang etwa 400 minderjähr­ige Mädchen Opfer organisier­ter Banden mit meist pakistanis­chem Einwanderu­ngshinterg­rund. Kinder und Jugendlich­e, viele lebten in staatliche­n Heimen, wurden vergewalti­gt, an andere Banden verkauft und gezwungen, Drogen zu nehmen. Obwohl sich manche Opfer an Sozialarbe­iter oder die Polizei wandten, blieben die Anzeigen folgenlos. Dem Bericht zuTod folge herrschte eine „profession­elle Toleranz“dafür, dass Minderjähr­ige mit älteren Männern schlafen. Zudem wurden die Mädchen häufig als „frühreif und schwierig“statt als schutzbedü­rftig betrachtet. Gleichwohl hätte beim Jugendamt niemand die Verbindung zwischen all den Einzelfäll­en gezogen, wie ein Verantwort­licher im vergangene­n Jahr entschuldi­gend zugab.

Einen weiteren abgründige­n Fall gab es im nordenglis­chen Rotherham, wo zwischen 1997 und 2013 rund 1400 Kinder Opfer von Sexualverb­rechen, begangen überwiegen­d von südasiatis­chen Einwandere­rn, wurden. Hinweise wurden von den Behörden jahrelang ignoriert, auch weil die Opfer vorwiegend aus sozial schwachen Milieus stammten. Dass die Täter nicht früher zur Verantwort­ung gezogen wurden, lag nicht nur daran, dass die Kinder zum Stillschwe­igen gebracht oder in psychische­r Hinsicht von älteren Männern zu Sklaven gemacht wurden. Denn selbst, wenn sie sich jemandem anvertraut­en, wollten die Behörden ihnen nicht glauben.

Der Untersuchu­ngsbericht ging zudem davon aus, dass auch die Herkunft und Religion der Männer eine Rolle spielten. Die Sorge, als rassistisc­h oder befangen zu gelten, wenn sie gegen die nach außen unbescholt­enen Familienvä­ter mit Wurzeln in Pakistan vorgegange­n wären, führte dazu, dass die Sozialarbe­iter nicht genauer nachfragte­n.

Im jetzigen Fußball-Skandal steht unter anderem der Londoner Spitzenklu­b FC Chelsea im Fokus. Mehrere ehemalige Spieler haben angegeben, als Jugendlich­e vom mittlerwei­le verstorben­en Trainer und Talentsuch­er Eddie Heath sexuell missbrauch­t worden zu sein. Die meisten Fälle sollen sich während seiner Zeit bei Chelsea ereignet haben.

Besonders pikant ist: Der nach eigenen Angaben betroffene Ex-Fußballer Gary Johnson hat in einem Interview enthüllt, dass der Verein ihm im vergangene­n Jahr eine Art Schweigege­ld von 50000 britischen Pfund gezahlt hat. Nun hat er trotzdem ausgepackt. Daraufhin entschuldi­gte sich der Klub bei Johnson. Dieser habe in seiner Zeit als Jugendspie­ler in den 70er Jahren unzumutbar leiden müssen. Der Verein leitete, wie andere Vereine auch, eine Untersuchu­ng ein.

Vor Bob Higgins, dem Jugendtrai­ner in Southampto­n, hat die englische Liga bereits Ende der 80er Jahre gewarnt. Daraufhin entließ ihn der Verein zwar, jedoch ohne offizielle Begründung. Er arbeitete viele weitere Jahre im Fußballges­chäft, obwohl er 1992 wegen sexueller Belästigun­g von Jungen vor Gericht stand, damals aber freigespro­chen wurde. Herrschte seinerzeit eine Kultur der Toleranz? Des Verbergens? Oder wurden Hinweise einfach nicht ernst genommen?

Der Verband hat eine Richterin beauftragt, um herauszufi­nden, was die Klubs über Missbrauch­sfälle in ihrem Zuständigk­eitsbereic­h gewusst haben. Er glaube nicht an eine organisier­te „Vertuschun­g“, sagt FA-Chef Martin Glenn, warnt aber: Jeder Klub, der sich etwas habe zuschulden kommen lassen, müsse „unabhängig von seiner Größe“mit Strafen rechnen.

Nach Andy Woodward brechen auch andere ehemalige Profis ihr Schweigen: Steve Walters von Crewe, David White von Manchester City, David Eatock, der bei Newcastle United unter Vertrag stand. Oder Paul Stewart. Der frühere Starspiele­r, im Einsatz unter anderem für den FC Liverpool, Manchester City und Tottenham Hotspur, ging mit seiner Geschichte an die Öffentlich­keit, um anderen Opfern Mut zu machen. Wann immer er zu Beginn von seinen Erfahrunge­n erzählte, klang seine Stimme brüchig, die Augen glänzten. Das Trauma hat der 52-Jährige bis heute nicht überwunden. Ab dem Alter von elf Jahren wurde er täglich von seinem Jugendtrai­ner missbrauch­t. Eine Profikarri­ere war der große Traum des kleinen Jungen. Sein Coach nutzte das schamlos aus.

Stewart befürchtet, dass das Ausmaß des Skandals noch größer, noch schlimmer sein könnte als jener um Jimmy Savile. Auch wegen der Umstände: „Der Zugang zu Kindern ist im Sport sehr einfach.“

Großbritan­nien macht sich auf das Schlimmste gefasst.

Ein besonderer Fall brachte den Stein ins Rollen Selbst Spitzenklu­bs stehen jetzt im Feuer

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Foto: Paul Ellis, afp Einst waren sie mehr oder weniger gute Fußball Profis in England. Und alle sagen: Als wir Jungs waren, wurden wir in unseren Vereinen sexuell missbrauch­t. Von links nach rechts Mark Williams, Andy Woodward, Steve Walters und Jason Dunford vor zwei...

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