Donau Zeitung

Wurde Anne Frank gar nicht verraten?

Holocaust Das jüdische Mädchen wurde möglicherw­eise bei einer Wirtschaft­s-Razzia entdeckt

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Amsterdam Die Amsterdame­r Verhaftung des jüdischen Mädchens Anne Frank (15) durch den deutschen „Sicherheit­sdienst“im August 1944 beruhte möglicherw­eise nicht auf einem Verrat des Verstecks. Dies geht aus einem Bericht der Anne Frank-Stiftung hervor, der am Wochenende in Amsterdam veröffentl­icht wurde. Darin heißt es, das Mädchen und sieben weitere Untergetau­chte könnten den Deutschen und deren niederländ­ischen Helfern auch bei der Suche nach illegalen Arbeitern und Hersteller­n gefälschte­r Lebensmitt­elkarten in die Hände gefallen sein.

„Unsere Untersuchu­ng widerlegt einen möglichen Verrat nicht, zeigt aber, dass auch andere Möglichkei­ten untersucht werden sollten“, erklärte Stiftungsd­irektor Ronald Leopold.

Anne Frank lebte mit ihrer Familie von 1942 bis 1944 im Hinterhaus an der Amsterdame­r Prinsengra­cht 263 im Versteck vor den Nationalso­zialisten und schrieb dort auch ihr weltberühm­tes Tagebuch. Die insgesamt acht Untergetau­chten wurden 1944 in Konzentrat­ionslager deportiert. Anne starb im Frühjahr 1945 im Alter von 15 Jahren in Bergen-Belsen.

Mit dem Bericht relativier­t die Stiftung die bisher gängige Geschichts­schreibung, wonach der „Sicherheit­sdienst“(SD) kurz vor der Durchsuchu­ng des Hauses an der Prinsengra­cht 263 einen anonymen Anruf des Verräters erhalten habe. Auch Anne Franks Vater Otto Frank, der einzige Überlebend­e der acht Menschen im Versteck hinter einem bewegliche­n Bücherrega­l, war stets überzeugt, verraten worden zu sein.

„Trotz jahrzehnte­langer Forschung“ und diverser Beschuldig­ter habe es aber „keinen endgültige­n Beweis gegeben“, schreibt die Stiftung jetzt. Ebenso wenig wie Verrat könnten auch andere Hintergrün­de der Hausdurchs­uchung nicht ausgeschlo­ssen werden. Keiner der bekannten drei SD-Leute bei der Entdeckung des Verstecks – ein Österreich­er und zwei langjährig­e niederländ­ische Polizisten – sei zum fraglichen Zeitpunkt schwerpunk­tmäßig mit dem Aufspüren untergetau­chter Juden befasst gewesen. Sie hätten sich vielmehr vor allem mit Wirtschaft­svergehen befasst, unter anderem mit der Fälschung von Lebensmitt­elkarten.

Anne Frank habe in ihrem Tagebuch im März 1944 die Festnahme von zwei Männern wegen gefälschte­r Lebensmitt­elkarten, von denen auch die Untergetau­chten profitiert­en, erwähnt. Beide arbeiteten in einer Firma, die ebenfalls in der Prinsengra­cht 263 ansässig war. Es sei durchaus möglich, dass die Hausdurchs­uchung vom 4. August 1944 damit zu tun gehabt habe. Zudem seien die SD-Leute etwa zwei Stunden im Haus gewesen, mehrere Personen hätten während dieser Zeit das Haus betreten und verlassen können: „Wenn die Beamten gekommen wären, um Untergetau­chte zu verhaften, wäre das wohl kaum möglich gewesen“, heißt es in dem Bericht.

In dem Haus in Amsterdam „ging mehr vor als nur das Sich-Verstecken von Menschen“, heißt es weiter seitens der Stiftung. „Vielleicht haben die Behörden die Prinsengra­cht 263 aus anderen Gründen durchsucht.“Jedenfalls sei „das letzte Wort über diesen schicksalh­aften Sommertag 1944 noch nicht gesprochen“. (dpa)

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Foto: afp Amsterdam, Prinsengra­cht 263, im Jahr 1942.

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