Weihnachten und die bitteren Lektionen Aleppos
Leitartikel Die schöne Botschaft vom „Frieden auf Erden“wirkt angesichts der Realitäten so unwirklich wie lange nicht mehr. Warum nur hat der Westen weggesehen?
Selten zuvor mutete die weihnachtliche Friedensbotschaft so unwirklich an wie in diesem Schreckensjahr. Auf dem Weihnachtsmarkt in Berlin fallen zwölf Menschen islamistischem Terror zum Opfer. In Syrien liegt die von Assad mit brutaler Gewalt zurückeroberte Großstadt Aleppo in Trümmern. Das Leid vertriebener, verfolgter Menschen dort nimmt kein Ende. Die Weihnachtsgeschichte, die den „Frieden auf Erden“verheißt, ist das eine, die Realität das andere. Die Augen der Welt sind auf den von ausländischen Mächten und einem innerislamischen Religionskampf befeuerten Krieg in Syrien gerichtet. Aber es gibt zur Stunde mehr als 250 bewaffnete Konflikte in der Welt. Der Mensch ist eben, wie es der Philosoph Kant formuliert hat, „aus krummem Holz“geschnitzt, der moralische Fortschritt des Menschengeschlechts eine Schnecke.
Gegen die Regierungen und Gesellschaften des Westens wird der Vorwurf erhoben, sie hätten dem Untergang Aleppos zugesehen und nichts getan, um den mithilfe russischer Kampfbomber herbeigeführen Sieg Assads über die Aufständischen zu verhindern. Ein besonnener Mann wie der evangelische Bischof Huber beklagt die „Gleichgültigkeit“im Angesicht der Kriegsverbrechen. Ja, es stimmt: Der Westen hat weggesehen und sein Versprechen („Nie wieder Srebrenica“) gebrochen, im Ernstfall die Menschenrechte zu verteidigen. Und wie kann es sein, dass Hunderttausende gegen ein Handelsabkommen auf die Straße gehen, das Massakrieren Zehntausender hingegen keinen Aufschrei auslöst? Die Angst vor einer Verschlechterung der Beziehungen zu Moskau und wirtschaftlichen Einbußen (im Fall Syrien reichte es nicht mal zu einem Sanktiönchen) war offenbar stärker als das Mitgefühl mit den Opfern. US-Präsident Obama und die Europäer, die sich mit ihrer pazifistischen Gesinnung moralisch auf der sicheren Seite wähnen, haben Putin und Assad freie Hand gelassen. Wer sich darüber jetzt empört, sollte allerdings hinzufügen, dass das Gemetzel von Aleppo nur militärisch zu verhindern gewesen wäre. Dazu waren weder die Mächte des Westens noch deren Bevölkerungen bereit. Hierfür gab es, wie die gescheiterte US-Intervention im Irak zeigt, gute Gründe – zumal angesichts des Risikos einer direkten Konfrontation mit Russland. Doch das Entsetzen über die Gräueltaten ist wohlfeil, solange es keine Konsequenzen erfordert. Es gebe „keine militärische Lösung“, so lautete das Mantra des Westens. Nun ja, Putin hat diese „Lösung“eiskalt gewählt. Das schwache Europa konnte, die USA wollten ihm nicht in den Arm fallen.
Die Tragödie von Aleppo hält mehrere bittere Lektionen bereit. Erstens: Wer auf nackte Gewalt setzt, gewinnt. Zweitens: Es gibt Konflikte, die mit Verhandeln nicht zu lösen sind, weil neben kalkulierbaren Machtinteressen auch das „Böse“im Menschen mit im Spiel ist. Drittens: Die Weltgemeinschaft ist nicht handlungsfähig. Despoten können ihr Volk malträtieren, wenn eine Veto-Macht an ihrer Seite steht. Viertens: Die Unruheherde, die im Mittleren Osten und an der Südflanke Russlands aus den Konkursmassen untergegangener Imperien stammen, sind extrem schwer zu befrieden. Fünftens: Die Welt, die nach dem Ende des Kalten Kriegs vom „ewigen Frieden“träumte, hat noch zu keinem neuen Gleichgewicht gefunden.
So sind die Realitäten und deshalb ist der „Frieden auf Erden“nur ein schöner, ein unwirklicher Traum. Sollen wir deshalb alle Hoffnung fahren lassen? Nein. Wider alle Erfahrung auf Frieden zu hoffen und im Großen wie im Kleinen danach zu streben, das bleibt – trotz allem – eine Mut machende und unverzichtbare Botschaft.
Putin hat die militärische Lösung gewählt