Schluss mit dem Mummenschanz! Wie Luther das Christkind erfand
Joline weiß, wie das Christkind aussieht: „Es hat goldene Flügel und kann fliegen“, sagt das fünfjährige Mädchen, das im Augsburger Stadtteil Lechhausen die katholische Kindertageseinrichtung St. Elisabeth besucht. Das Christkind, sagt Joline, „wohnt im Himmel, in den Wolken“und kommt nur an Weihnachten auf die Erde. Auch die anderen Kinder in ihrer Gruppe haben ihre klaren Vorstellungen: „Es hat so ein weißes Gewand“, meint Max, „... und eine Zipfelmütze wie ein Zwerg“, versichert Jonathan. „Es ist barfuß“, weiß Tim.
Selbst erspäht haben es die Kinder noch nicht. Das ist ein Vorrecht von Mama und von Papa, wenn sie sich am Heiligen Abend im verschlossenen Weihnachtszimmer aufhalten. Die Erwachsenen machen höchstens unbestimmte Andeutungen, was darin geschieht. Wahrscheinlich dürfen sie gar nicht darüber reden, sonst würde das Christkind nie mehr kommen. Es ist vermutlich ein ganz scheues Wesen. Und wer es sehen will, muss das Geheimnis in alle Ewigkeit für sich behalten. Aber irgendwer muss doch einmal angefangen haben, vom Christkind etwa zu erzählen. Man sagt, es war Martin Luther, der sich vor 500 Jahren anschickte, die Kirche zu erneuern mit einer Reformation.
Wahrscheinlich lässt sich das Christkind nur sehr kurz in jedem Haus blicken und fliegt gleich wieder davon. Für ein Schwätzchen hat es am Heiligen Abend bestimmt keine Zeit, es muss ja an dem Tag in so vielen Wohnungen einkehren. Der heilige Nikolaus ist da ganz anders. Wenn er ins Haus kommt, hat er immer ein bisschen Zeit und unterhält sich mit den Kindern. Der weißbärtige Mann mit dem roten Umhang hat manchmal auch ein goldenes Buch dabei. Er hat dort etwas hineingeschrieben. Es gibt einen gütigen, aber auch einen strengen Nikolaus. Entweder lobt er die Kinder oder er mahnt sie, nicht so viel anzustellen.
Doktor Luther war vom heiligen Nikolaus aber gar nicht begeistert. Am 6. Dezember 1527 erklärte er streng von der Kanzel herab: „Die Legend des heutigen Fest des heiligen Bischofs Nicolai wollen wir lassen anstehen, denn ist viel kindisch Ding und zu Zeiten auch Lügen sich mit einmischen. (Wir) wollen bei dem Evangelium etwas Nötigeres sagen.“Punktum. Ende der Bescherung. Luther hatte etwas Besseres zu bieten. Wenn schon jemand Geschenke zu Weihnachten ins Haus bringt, dann ist es der „Heilige Christ“, eben das Christkind als Lichtgestalt, und kein tollpatschiger Bischofsdarsteller. „Lenchen, was wird dir der Heilige Christ bescheren?“, fragte er zwei Gewährsleuten zufolge sein Töchterlein kurz vor Weihnachten 1531. Luther, so sagt man, hat das Christkind eingeführt.
Gar so einfach verhält es sich indes nicht. Luthers eigene Haushaltsrechnungen weisen noch 1535 „Niclas“-Geschenke aus. Der Reformator, so stellte die Volkskundlerin Erika Kohler fest, unterschied in der Pflege des Nikolaus-Brauchs zwei getrennte Vorstellungen: eine nächtliche Bescherung ohne einen bestimmten Gabenbringer (der ihm behagte als Pfarrer, der den reinen Glauben verkündete) oder den austeilenden Heiligen (den er ablehnte). Des Nachts konnten dann sowohl das Christkind als auch der Nikolaus bescheren – sie blieben auf jeden Fall unsichtbar und erregten damit keinen Anstoß, verkleideter Mummenschanz zu sein. So heißt es in den Schriften Martin Luthers: „Gleichwie man die Kindlein gewöhnt, dass sie fasten und beten und ihre Kleidlein des Nachts ausbreiten, dass sie das Christkind oder Sankt Nikolaus bescheren soll.“
Im sehr bekannten Gedicht „Knecht Ruprecht“von Theodor Storm (1817–1888) handeln sogar beide. Knecht Ruprecht, traditionell der raubeinige Geselle des Nikolaus, „strolcht durch den finstern Tann“und kündigt den Menschen das Christfest an („es weihnachtet sehr“). Derweil lugt das Christkind mit großen Augen „droben aus dem Himmelstor“. Es wartet schon darauf, selbst aktiv zu werden („Und morgen flieg ich hinab zur Erden“), „denn es soll wieder Weihnachten werden“. Das Christkind verbreitet nur mehr den festlichen Glanz, während Knecht Ruprecht aus seinem Säcklein austeilt („Denn Apfel, Nuss und Mandelkern essen fromme Kinder gern“). Auf ausdrückliches Geheiß des Christkinds („Hast denn die Rute auch bei dir?“) hat der wackere Bursche aber auch zu strafen. Freilich wendet er die Rute in aller Gerechtigkeit an: „Doch für die Kinder nur, die schlechten, die trifft sie auf den Teil, den rechten!“
Vor solcher schwarzer Pädagogik graut es Elisabeth Naurath, Professorin für Evangelische Religionspädagogik an der Universität Augsburg. Weihnachten könne ein heilsames Fest sein, das lange nach der Kindheit ausstrahlt. „Es ist ein wertvolles Bild für Kinder, dass das Christkind vom Himmel her allen Menschen etwas Gutes schenkt“, findet Naurath. Nach dem Religionsphilosophen Friedrich Schleiermacher (1768– 1834) bekommen die Kinder damit einen „Geschmack fürs Unendliche“. Es gibt etwas Größeres, das unser irdisches Begreifen übersteigt, und es spielt eine Rolle für unser Leben, führt es ins Offene und Weite. Das Christkind gibt dieser Dimension eine Gestalt. „Es ist eine schöne Vorstellung, dass eine lichte Figur uns Schönes beschert“, erklärt Elisabeth Naurath. Eben so, wie der große Gott an Weihnachten den Menschen in seinem Sohn Jesus in der Krippe zu Bethlehem sein Liebstes schenkt.
Entwicklungspsychologisch seien kleine Kinder sehr stark im Mythischen verhaftet. Wirklichkeit und Möglichkeit vermischen und durchdringen sich in ihrer Vorstellung. Am Vorbild der Erwachsenen lernen Kinder laut der Religionspädagogin, für sich zu entscheiden, was von Fall zu Fall richtig ist. Wenn die Oma am Telefon mit dem Kind spricht, akzeptieren auch die Eltern, dass es wirklich Oma ist, auch wenn man sie nicht sehen kann. Die Angst vor dem Gespenst unterm Bett im Kinderzimmer dagegen tei- die Erwachsenen nicht; also darf auch das Kind getrost davon ausgehen, dass seine bedrohliche Einbildung keine Wirklichkeit hat. Vom Christkind zu sprechen, hilft laut Elisabeth Naurath dem kleinen Kind, den abstrakten Brauch des weihnachtlichen Beschenkens in seiner Wahrnehmungswelt vorstellbar zu machen. „Man sollte allerdings den richtigen Zeitpunkt finden – etwa am Ende der Grundschulzeit, umzuleiten auf die realen Gegebenheiten, damit es nicht zum Knick im Jugendalter kommt“, empfiehlt die Religionspädagogin. Jugendliche sollten nicht den Eindruck haben, als Kind von ihren Eltern zum Narren gehalten worden zu sein. Bei einem guten Übergang kann die Erinnerung pendeln zwischen Himmelsglanz und Päckchendienst. Elisabeth Naurath: „Wir sollten den Zauber des Christkinds erhalten – auch im Erwachsenenalter. Es tut uns gut, wenn ein Lichtschleier bleibt und ein Rest von Geheimnis.“
So wird auch eine Gestalt wie das goldgeflügelte Nürnberger Christkind, das alljährlich den berühmten Weihnachtsmarkt feierlich eröffnet, nicht vollends zur Clownerie. Wie es sein Antipode erlitt, der Weihnachtsmann, der seit 1931 auch für Coca-Cola stiefelt und mit derlei kommerziellen Auftritten seine Aura aufs Spiel setzt. Als weihnachtlicher Werbeträger aber ist er der Erfolgrei- chere. „Medial ist das Christkind nicht mehr vermittelbar“, bilanziert der Regensburger Volkskunde-Professor Gunther Hirschfelder nüchtern. „Der Weihnachtsmann ist formreduziert, er lässt sich auch in Schokolade gießen, mit Stanniol überziehen. Er hat eine Nähe zu der schon bekannten Figur des Nikolaus und er betätigt sich als Gabenbringer nach dem amerikanischen Brauch“, zählt Hirschfelder dessen Vorzüge auf.
Im Medienzeitalter gerät das Christkind aus seiner Sicht jedoch vor allem deshalb ins Hintertreffen, „weil es nicht mehr unschuldig vermittelbar ist“. Für die Populärkultur müsste man es entweder als stilisierte Werbefigur total klobig wiedergeben („das geht aber beim Christkind nicht“) – „oder wir bilden realistisch ein androgynes, im Pubertätsalter befindliches Wesen ab, bei dem wir keine Nähe mehr sehen zu etwas Spirituellem, wie es die alte Kunst mit dem Heiligen Christ tat. Wollten wir das Christkind medientauglich real visualisieren, dann würde es schnell anrüchig werden und mit etwas Sexuellem verbunden werden“, analysiert der Regensburger Volkskundler.
Nichts mehr hätte eine derart verführerische, sexy Film-Ikone à la Marylin Monroe oder Madonna mit dem kindlichen Wesen zu tun, das den volkstümlichen Umzugsbräuchen des späten Mittelalters entstammt. Zusammen mit Maria und Josef und dem Jesuskind zogen einst weißgewandete Mädchen mit offenen Haaren durch die Dörfer mit. Ihre Anführerin war das engelhafte, verschleierte Christkind. Eine derart züchlen tige, dezente, durchaus fromme Weihnachtsdarstellung fand den Segen strenger Lutheraner, die im Übrigen größten Wert darauf legten, dass der Heilige Christ nicht mit dem neugeborenen Gottessohn in der Krippe verwechselt wird.
Solche Christkind-Umzüge im Pfarrsprengel bahnten im 16. Jahrhundert in den lutherischen Gebieten den Umstieg Weihnachtens zu einem häuslichen Familien- und Kinderfest an. Freilich zunächst beschränkt auf das wohlsituierte, städtisch-bürgerliche Milieu. Parallel zur Christkind-Bescherung schickte sich nach den Erkenntnissen der Volkskundlerin Ingeborg Weber-Kellermann auch die katholische Oberschicht an, mit der Entwicklung Schritt zu halten. Einziger Unterschied: Es war weiterhin der Nikolaus, der die Geschenke ins Haus brachte.
Von diesem Heiligen wollten die Protestanten aber nichts mehr wissen. „Aber dass wir alte Narren in Bischofshüten und geistlichem Gepränge dahergehen und Ernst daraus machen – ja nicht allein Ernst, sondern Artikel des Glaubens, dass es Sünde sein muss (...), wer solch Kinderspiel nicht anbetet, das ist der Teufel selbst“, schrieb Luther angewidert über abgöttische Verwechslungen. Einzelne Städte untersagten sogar die Nikolausumzüge. So beschloss im Jahr 1570 der Straßburger Magistrat auf Anraten des Münsterpfarrers, sie zu verbieten, weil man den Kindern einschärfen müsse, das Christkind bringe die Geschenke.
So blieb es fast 300 Jahre lang: das Christkind war ein fester Besitz der Protestanten. Dann bekam es eine neue Konkurrenz: den Weihnachtsmann. Dessen Geburtsstunde glaubt die Volkskundlerin Ingeborg Weber-Kellermann recht genau bestimmen zu können: Der romantische Maler Moritz von Schwind (1804–1871) zeichnete 1847 einen „Herrn Winter“für eine Bilderfolge, „die der Münchner Bilderbogen durch ganz Deutschland und halb Europa verbreitete“. An seiner Popularisierung habe die Schokoladenindustrie „keinen geringen
Das Medienzeitalter ist die Ära des Weihnachtsmanns Jahrhundertelang brachte der Nikolaus die Geschenke. Bis er den Job an den „Heiligen Christ“abgeben musste. Von da an wurde es ganz schön abenteuerlich Von Alois Knoller Das Christkind und das Jesuskind in der Krippe – ist das dasselbe? Das Christkind schläft auf Wolken, aber zuerst Zimmer aufräumen!
Anteil“gehabt, bestätigt WeberKellermann die These von Gunther Hirschfelder. Ziemlich einheitlich verbreiteten sich die volkstümlich-kindlichen Glaubensvorstellungen über den vollbärtigen, männlichen Gabenbringer. „Die Fiktion passte zum Leitbild vom liebevoll-autoritären Vater“, sagt Weber-Kellermann. Mit steigendem Wohlstand bürgerlicher Schichten ist der Heilige Abend im Biedermeier zudem zu einem Bescherfest für Kinder geworden. Der Geber wurde dabei verschleiert, geheimnisvoll-mythische Figuren kamen gerade recht, denn Christkind und Weihnachtsmann kann man nicht beschenken, außer mit Artigkeit.
Die erwartungsfrohen Kinder begannen, Wunschzettel an das Christkind zu schreiben. Das macht der kleine Jonathan aus der Kindertagesstätte St. Elisabeth mithilfe seiner Mama noch heute: „Wir legen ihn aufs Fensterbrett und am nächsten Morgen ist er weg.“Was dann geschieht? „Das Christkind hat einen Zauberstab und erfüllt die Wünsche der Kinder“, sagt Max. Und wie kommen die Geschenke unter den Weihnachtsbaum? „Das Christkind fliegt zu uns und gibt der Mama die Geschenke“, weiß Tim. Vielleicht hat es einen großen Rucksack (Jonathan) oder einen Schlitten – „oder es zaubert sich mehr Hände hin“(Max).
Adalbert Stifter (1805–1868) sah in seiner Erzählung „Weihnacht“das Christkind auf einem goldenen Rösslein. „Und das Rösslein läutet vor der Tür der Stube mit seiner Glocke und tut ungebärdig, schlägt an die Tür und wenn die Kinder hinauseilen, ist das Rösslein fort, und das gefüllte Schüsselchen steht da.“E.T.A. Hoffmann (1776– 1822) vermittelte eine andere Vorstellung: „…es war ihnen, als rausche es mit linden Flügeln um sie her und als ließe sich eine ganz ferne, aber sehr herrliche Musik vernehmen. Ein heller Schein streifte an der Wand hin, da wussten die Kinder, dass nun das Christkind auf glänzenden Wolken fortgeflogen zu andern glücklichen Kindern“(„Der Weihnachtsabend“).
Bleibt noch ein Rätsel: Was macht das Christkind nach Weihnachten? „Es geht dann wieder in sein Haus im Himmel zum Schlafen oder zu den Engeln auf dem Christkindlesmarkt“, so Joline. „Vielleicht schläft es auf einer Wolke“, ergänzt Tim. „Es muss aber vorher noch den Schlafanzug anziehen und das Zimmer aufräumen“, sagt Joline.