Ein Flickenteppich zum Fest der Liebe
Als wäre Weihnachten in der Familie nicht kompliziert genug: Der Trend zum Patchwork lässt endgültig alles aus dem Ruder laufen
Bevor das neue Weihnachtsdrama Gestalt annimmt, das heute schon jede sechste Familie in Deutschland lebt und jedes vierte Kind betrifft – eine Frage vorab: Ist das jetzt die Rache der Evolution? Dass gerade Weihnachten, das Fest der Liebe, für den nach immer mehr Selbstverwirklichung strebenden modernen Menschen zur großen Chaos-Prüfung wird? Nach dem Motto: Seht ihr, was ihr da angerichtet habt und euch selbst zumutet? Mit eurem unersättlichen Glücksund Freiheitsstreben?
Unsere Ahnen lebten in Sippen statt Familien, weil jederzeit der Tod drohte und die Kinder so bei allen zu Hause waren; auch in längst zivilisierten Zeiten waren Stief- und Großfamilien normal, weil all die Opfer von Kindsbett, Krieg und Krankheit es nötig machten. Und heute, wo Gesundheit und Wohlstand stabil sind, die Zeit so friedlich, die Umwelt so wenig feindlich wie nie zuvor, wo wir also unsere Ruhe haben könnten…?
Es gibt ein Kinderbuch der Autorin Ute Krause, die sich schon in „Wann gehen die wieder?“als Patchwork-Expertin gezeigt hat. Es heißt „Feiern die auch mit?“und erzählt, wie der Vater aus der Räuberhöhle aus- und bei einer Prinzessin und deren Kindern eingezogen ist; woraufhin sich die Mutter zu ihren sieben Räuberkindern einen Drachen samt Anhang ins Haus geholt hat. Dann kommt Weihnachten, und man wird allein beim Lesen verrückt. Erst wird bei den Eltern der Prinzessin geflötet, getrommelt und beschert, dann bei RäuberOma und Räuber-Opa beschert, Kuchen gegessen, gesungen und getrommelt, dann gibt es bei Papa und der Prinzessin Geschenke, Kartoffelsalat und Würstchen, dann geht es zu Mama und dem Drachen für Geschenke, Weihnachtssingen, Kartoffelsalat und Würstchen.
Und in all das hinein, was ja wie ein munterer Reigen wirken könnte, fällt die Szene, in der sich die Räubersprösslinge von ihrem Vater und der Prinzessin verabschieden und das erzählende Kind schildert: „Ich winke Papa noch einmal zum Abschied zu. Als ich mich an der Tür umdrehe, steht er immer noch da und schaut uns nach…“
Und damit sind die beiden Kernprobleme der Patchwork-Weihnacht veranschaulicht. Zum einen: der Organisationswahnsinn um eine letztlich nie zu schließende Gerechtigkeitslücke herum. Denn wenn die traditionelle Familie zwischen zwei Großeltern-Seiten bei Geschenken und Besuchen Lösungsmöglichkeiten ermitteln muss, die alle Kinder gleich behandeln (da äugt der Nachwuchs sehr genau!) – muss man sich das mindestens verdoppelt, ja vervielfacht vorstellen, wenn es um die modernen Flickenteppiche geht. Bei Ute Krause etwa haben Vater und Mutter jeweils einen neuen Partner, der auch wiederum einen Ex-Partner hat, das sind sechs Erwachsene mit Kindern in drei Elternkombinationen und bis zu sechs Omas und Opas. Und die wohnen heute typischerweise nicht gerade Höhle an Höhle, sondern hunderte Kilometer voneinander entfernt. Selbst wenn sich alle super verstehen und miteinander im Reinen sind – wie soll da Gerechtigkeit und Harmonie zum Fest der Liebe herzustellen sein?
„Patchwork ist Familie in Potenz – hoch drei, vier, fünf“, schreibt deshalb die Autorin Felicitas von Lovenberg in „Und plötzlich war ich zu sechst“, einem persönlichen und gesellschaftlichen Frontbericht. Eine Art Resümee: „Doch wenn man die Sache richtig anzupacken weiß, ist eine Patchwork-Familie trotzdem das Beste, was einem Kind passieren kann – vor allem zu Weihnachten. Ist doch klar: Was einem Mama nicht schenkt, wünscht man sich von Papa, und das, wofür Oma Nummer eins sich nicht erwärmen kann, bekommt man vielleicht von Großvater Nummer drei …“Das Beste…? Wenn man die Sache richtig anzupacken weiß…?
In aller Kürze: Von Lovenberg plädiert für einen sehr offenen Umgang, der sich des unweigerlichen Scheiterns irgendwie lustvoll bewusst ist. Dass es, „obwohl es nie perfekt ist, trotzdem nicht schöner sein kann“. Weil man etwa wertschätzt, dass die Erwachsenen aus ihrem vorherigen Scheitern schon gelernt haben; und dass Kinder nicht nur bei Geschenken und Essensgewohnheiten zum Fest, sondern auch sonst unterschiedliche Charaktere in liebevoller Zuneigung kennenlernen. Und machte das nicht auch den Charme der Fernsehserie aus, die vor gut 30 Jahren den Deutschen mit Charme die Patchwork-Welt näherbrachte: Thekla Carola Wied und Peter Weck in „Ich heirate eine Familie“?
Von Lovenberg aber weiß, und das ist auch das Zweite wie bei Ute Krause: „Als wichtigstes Familienfest des Jahres ist Weihnachten für Patchworker immer auch mit Schmerz und Traurigkeit verbunden und, jedenfalls für die meisten Kinder, mit der Erinnerung an vergangene Zeiten, da sie noch mit Mama und Papa vorm Weihnachtsbaum saßen…“Und sie spricht da nicht nur von kleinen Kindern. Sie schildert auch einen Fall, in dem sich schon nicht mehr Pubertierende, die die Trennung ihrer Eltern eigentlich akzeptierten, gerade an Weihnachten sperrten. Mit der Mutter und deren neuem Partner bei Karpfen feiern, wo doch das Heiligabend-Gefühl auch an den Vater gebunden ist? Also: ganz oder gar nicht. Und zudem: Ente oder gar nicht! „Wir wollen nun mal, dass alles immer so ist wie früher.“
Wenn also die Kinder – und seien sie hier 19 und 20 Jahre alt – nicht das vermeintliche Glück der größeren Spielräume in den neuen Lebenskonstellationen schätzen, sondern die Sehnsucht nach einem traditionellen Zuhause haben, Weihnachten mit Ivan Rebroff statt mit Frank Sinatra? Für die Autorin ist das der Punkt, wo die getrennten Eltern auf ganz andere Art zusammenstehen müssen – nämlich in der Behauptung ihres eigenen Lebensentwurfs. So kann gerade Heiligabend zur Prüfung werden. Ob die neuen, vielleicht freieren, aber auch komplizierteren Wege nämlich vor der simplen Frage Bestand haben: Ist es das wert?
Alle gesellschaftlichen Studien jedenfalls sagen voraus: Es wird immer mehr Patchwork-Familien geben. Und auch immer mehr sogenannte „generationenübergreifende Solidargemeinschaften“. Die Werte sind im Wandel. Und Weihnachten ist es damit auch. Wolfgang Schütz
„Wir wollen nun mal, dass alles immer so ist wie früher“