Die evakuierte Stadt
Räumung Der 25. Dezember in Augsburg: Das ist ein Tag, an dem die einen nur wegwollen, die anderen da sind, um zu helfen – und alle hoffen, dass drei Männer keinen Fehler machen. Über eine Bombe, die das Weihnachtsfest bestimmt, bange Stunden und die erlö
Augsburg Sie macht sich ja selber Sorgen. Schon, weil ihre Wohnung mitten in der Schutzzone liegt. Und ja, weil es auch vom Altenheim nur ein paar hundert Meter bis zur Bombe sind. Doch Heidi Sulter, Wohnbereichsleiterin im Augsburger Hospitalstift St. Margaret, darf sich nichts anmerken lassen. Sie darf sich keine Sorgen machen. Denn wenn sie aufgeregt ist, sind es auch die anderen. Und für die rund 200 Bewohner des Altenheims sind die Tage schon anstrengend genug. Sie müssen am ersten Weihnachtsfeiertag ihr gewohntes Umfeld verlassen – wie alle Augsburger, die in einem Umkreis von 1,5 Kilometern um die Fliegerbombe wohnen, die vergangene Woche in der Jakobervorstadt entdeckt wurde. 54 000 Menschen werden evakuiert – so viele wie noch nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik.
Doch erst einmal heißt es warten. Um sieben Uhr sollte der Bus abfahren, jetzt ist es gleich acht. Und er ist noch immer nicht da. Die Rollstuhlfahrer, die im Aufenthaltsraum ausharren, fragen ungeduldig nach. Viele machen sich Sorgen. Die neue Umgebung, die ungewohnten Gesichter, überhaupt, die Erinnerungen an den Krieg und an die Bombennächte, die bei vielen wieder hochkommen. Wer nur liegend transportiert werden kann, der musste schon an Heiligabend das Altenheim verlassen, erzählt Heidi Sulter. Die Senioren wurden in ein Heim im Stadtteil Lechhausen verlegt, außerhalb der Schutzzone. Einer Frau ging es schon in den vergangenen Tagen sehr schlecht. Sie liegt im Sterben. Unter normalen Umständen hätte man sie auf keinen Fall woanders hingebracht. Aber das ist nicht normal.
Es ist noch dunkel, morgens um sieben. Doch der Augsburger Verkehrsknotenpunkt am Königsplatz ist um diese Zeit schon hell erleuchtet. Die Ersten verlassen die Innenstadt. Sie wollen dem vermeintlich großen Ansturm zuvorkommen. Wer hier in den Bus steigt, hat eine kleine Tasche dabei, einen Trolley oder einen Rucksack. Niemand weiß, wie lange es dauert, bis die Fliegerbombe entschärft ist. Die Stimmung ist gedämpft; jeder weiß, dass der andere neben sich dasselbe Ziel hat: einen Ort außerhalb des Gefahrenbereichs. Martina Oswald und Alexander Schiechtl sind vorbereitet. Die beiden Mitarbeiter der Stadtwerke haben sich an den Haltestellen postiert – mit stapelweise Informationsmaterial. Karten, die zeigen, wie weit die Schutzzone reicht, Antworten zu den am häufigsten gestellten Fragen. Auch Otto Mayer ist im Dienst – und das seit 4 Uhr morgens. Der 50-Jährige ist wie viele andere Fahrer eingesprungen, um Augsburger mit Bus oder Straßenbahn zu transportieren. Er wird so lange fahren, bis der Betrieb in ein paar Stunden eingestellt wird. Bis nur noch Krankentransporte in der Innenstadt verkehren dürfen.
Petra Dirnbach will weg, einfach nur weg. Rein ins Auto, raus aus der Fuggerei und schnell die paar Kilometer nach Gersthofen fahren, zur Verwandtschaft. Doch Moritz fehlt, der Kater. Wo er sich versteckt hat? Schwer zu sagen, jetzt, wo es noch dunkel ist. Wenigstens sitzen Vincent, Fiona und Raphael, die Kinder, schon im Auto. Brigitte Gollmetzer, die Großmutter, schaut noch einmal zurück auf das kleine Häuschen, das die Familie hier, in der ältesten Sozialsiedlung der Welt, bewohnt. „Da oben brennt noch Licht“, sagt sie. Sorge liegt in ihrem Blick, Verunsicherung. „Das ist nur im Hausgang“, versichert die Tochter. Sie hat es gerade geschafft, Moritz einzufangen. Jetzt sitzt er in der Transportbox neben Max, dem anderen Kater. Und dann müssen noch die Reisetaschen in den Kofferraum. Fiona hat Süßigkeiten und ihren Malkoffer eingepackt, die Buben haben ihre Weihnachtsgeschenke auf den Schoß genommen. Die Mutter hat Schlafanzüge und Waschzeug eingepackt, die Oma den Rosenkranz. Petra Dirnbach löscht das Licht im Gang, schließt die Haustür. Fünf Minuten später sind sie weg.
Viele Helfer aus ganz Bayern haben sich angekündigt, um die Innenstadt zu räumen und die Menschen zu versorgen. Von 4000 ist die Rede. Im Hospitalstift sind es an diesem Vormittag zu viele. Vor dem Heim warten zehn Personen auf Arbeit. Michael Meier muss sie nach Hause schicken. Auch Uli Liebermann hätte gern geholfen. „Jetzt fahre ich zu meinem Sohn“, sagt sie und lächelt. Weihnachten mit der Familie. Mit der Enkelin spielen. Auch schön.
Christiana Fahrenkamp und Horst Herb stehen seit dem Morgen an der Haunstetter Straße, die in die Innenstadt führt. Die beiden Helfer eines ehrenamtlichen Augsburger Ordnungsdiensts tragen neongelbe Jacken und schwarze Mützen. Und sie sind begeistert von der Hilfsbereitschaft, die sich auch bei ihnen an der Absperrung zeigt. „Nachbarn haben uns Plätzchen und Tee gebracht“, erzählt Fahrenkamp. Und Kartoffelsuppe zum Mittagessen. Und eine Geschichte werden die beiden wohl nie vergessen: die des BMW-Fahrers mit dem Rosenheimer Kennzeichen, der unbedingt in den Bereich vor der Sperrzone fahren wollte, der an diesem Tag den Anwohnern vorbehalten ist. „Er hat erzählt, dass er seiner Freundin einen Heiratsantrag machen will.“Sein Beweis: der Blumenstrauß auf dem Beifahrersitz. Die Ordner haben ihn durchgelassen, ausnahmsweise. „Später fuhr er wieder an uns vorbei. Seine Freundin saß neben ihm und hielt die Blumen in der Hand.“Glücklich hätten sie ausgesehen, sagt Herb. „Ich schätze, sie hat Ja gesagt.“
Die Eheleute sind zu Hause geblieben. Weil ihre Wohnung im Domviertel am Rand der Schutzzone liegt – und damit, wie sie sagen, weit genug von der Fliegerbombe entfernt. „Und jeder weiß, dass nichts passieren wird.“Also reagieren sie nicht. Nicht auf die Lautsprecherdurchsagen morgens um acht Uhr, nicht, als die Polizisten läuten – um zehn Uhr, um halb elf, um Viertel nach elf. Um halb zwölf fährt erneut der Wagen vorbei mit der Durchsage, den gesperrten Bezirk unverzüglich zu verlassen. Danach kehrt Ruhe ein, eine Feiertagsruhe, wie es sie sonst nicht geben kann. Im ganzen Haus ist kein einziges Geräusch zu hören. Gar nichts. Gleichzeitig spürt man, ganz allein im Viertel, auch eine Verlassenheit. Kurz nach drei ist die Schutzzone komplett geräumt – Stunden später als geplant. Jetzt sind die Sprengmeister die Einzigen, die sich dort aufhalten dürfen: Martin Radons, Christian Scheibinger und Roger Flakowski. Jetzt liegt es an ihnen.
Kurt Gribl läuft unruhig durch das Foyer der Kongresshalle. Zwischendurch geht der Oberbürgermeister auch mal nach draußen. Man sieht ihm die Anspannung an, jetzt, anderthalb Stunden nach Beginn der Entschärfung. Er betet dafür, verrät er später, dass alles gut geht. Sonst kann er nichts tun. Nur warten. Er sagt: „Das ist jetzt die Phase, die persönlich für mich am schwierigsten ist.“Wie die Arbeit der Sprengmeister vorangeht? Das weiß auch er nicht. Die drei Männer an der Bombe müssen sich konzentrieren.
Allein in der Wohnung im Domviertel kommen Fragen auf: Warum dauert das so lange? Draußen wird es dunkel. In keinem Haus weit und breit brennt Licht, nur hier und da geht automatisch die Weihnachtsbeleuchtung an. Die Eheleute trinken ein Glas Wein im Dunkeln. Sie wollen auch jetzt nicht auffallen – und erst recht nicht die Einsatzkräfte auf sich aufmerksam machen und beunruhigen.
Dirk Wurm hat die vergangenen Stunden im Lagezentrum des Krisenstabs verbracht, zwischen Computern, Telefonen und Stadtplänen. Jetzt steigt auch beim städtischen Ordnungsreferenten die Nervosität. Was, wenn die Entschärfung noch Stunden dauern wird? Was, wenn die Bürger heute nicht mehr zurück in ihre Wohnungen können? Im Krisenstab denkt man darüber nach, wie man Übernachtungsmöglichkeiten für Zehntausende schaffen kann. Doch dann, um 18.48 Uhr, stößt Wurm einen „tiefen Seufzer“aus. Im Krisenstab bricht Jubel aus. Die Sprengmeister haben Entwarnung gegeben: Die Bombe ist entschärft.
Als alles vorbei ist, macht sich bei Radons, Scheibinger und Flakowski erst einmal Erleichterung breit. Mehr als dreieinhalb Stunden waren die Männer, die für die Kampfmittelbeseitigungs-Firma Tauber arbeiten, mit der Entschärfung der 1,8-Tonnen-Bombe beschäftigt. Sie haben rostige Muttern aus verzogenen Gewinden gelöst, unter größter Vorsicht die drei Zünder entfernt und die Bombe auf weitere mögliche Zünder kontrolliert. „Konzentriert und ohne Aufregung“müsse man so eine Arbeit erledigen, sagt Radons.
Viel Aufhebens um sich wollen die Männer nicht machen, aber die Erleichterung ist auch ihnen anzumerken. Sie hantieren fast täglich mit Sprengstoffen, und auch bei einem Blindgänger, der 100 Mal kleiner ist, wäre ein Fehler für den Entschärfer tödlich. Aber von der Größe sind auch sie beeindruckt.
Die Männer stehen nach der Entschärfung in der mit Scheinwerfern ausgeleuchteten Grube, erklären dem hinzugekommenen Katastrophenstab ihre Arbeit und ziehen sich dann an den Rand zurück. „Neben 1500 Kilo Sprengstoff im Loch zu stehen und sich gegenseitig vertrauen zu müssen, aber doch ganz alleine auf sich gestellt zu sein: Auch wenn die Leute das können und psychisch stabil sind, ist das eine Leistung, die nicht jeder kann. Denen gebührt unser aller Dank“, sagt Andreas Heil, Geschäftsführer von Tauber.
Es ist die Nachricht, auf die man auch in der Messehalle gewartet hat: Die Bombe ist entschärft. Jetzt strömen dutzende Menschen aus der Halle. Viele sind seit dem frühen Morgen da – und wollen nur noch heim. Die einen räumen leere Flaschen von den Tischen ab, andere raffen Decken und Sitzkissen zusammen. Layla und Amir Amir packen das Spielzeug der Kleinen ein. Die Kinder sind immer noch aufgedreht. „Uns war gar nicht langweilig“, sagt Siham, die älteste Tochter. Sie geht seit einem halben Jahr in Deutschland auf die Grundschule. Vor einem Jahr floh die Familie aus Syrien. „In Syrien gibt es viele Bomben“, sagt Siham. Ihr Vater hat sich den ganzen Tag Sorgen gemacht – vielleicht noch ein bisschen mehr als andere: „Wir hatten einfach Angst, dass alles in die Luft fliegt.“Die gute Nachricht hat er eben im Internet gelesen. Man sieht ihm die Erleichterung an. Vielleicht noch ein bisschen mehr als anderen.
Es berichteten: Sarah Ritschel, Jörg Heinzle, Carolin Hitzigrath, Stefan Krog, Miriam Zissler, Richard Mayr.