Ist Europa noch zu retten?
Debatte Wachsende EU-Skepsis, erstarkender Nationalismus: Nach dem Brexit-Entscheid 2016 droht 2017 das Auseinanderbrechen der Europäischen Union. Was die Geschichte lehrt – und was aktuell helfen könnte
„Europa kann sterben.“Als Manuel Valls diesen Satz vor einigen Wochen sagte, war er noch Frankreichs Ministerpräsident und stand unmittelbar unter dem Schock von Donald Trumps Wahlsieg in den USA. Krisen, Terror, Flüchtlingsprobleme, folgenreiches Schwächeln des Wirtschaftswachstums: „Die Wut der Völker bricht aus …“. Ein Alarm als Selbstzweck? Inzwischen ist Valls ja Kandidat für die Präsidentschaftswahl 2017 in Frankreich – und die Drohgebärde, dass mit einem möglichen Sieg der Rechtspopulistin Marine Le Pen der EU das nächste Austrittsreferendum bevorstehen würde, könnte ja nutzen…
Kann Europa also wirklich sterben? Vielleicht schon im nächsten Jahr? Wo inzwischen ja auch der Europäer Matteo Renzi als italienischer Ministerpräsident gescheitert ist und bei möglichen Neuwahlen dort nach dem Brexit und neben dem Frexit eben auch ein Italexit denkbar scheint: Dann wäre Deutschland die letzte der vier stärksten Wirtschaftmächte Europas, die in der EU verbliebe! Ein Schreckgespenst?
„Europa in der Falle“, „Europa am Abgrund“, „Der Schwarze Juni“, „Europa ist tot, es lebe Europa“– so heißen aktuelle Sachbücher zum Thema, die nicht aus alarmistischer Sicht, sondern von profilierten Autoren geschrieben wurden und zeigen: Es ist ernst, sehr ernst. Und höchste Zeit, umzudenken. Denn mit patriotischen Schlagworten nach Vorbild von Trumps Wahlkampfslogan „Make America Great Again“wird hier nicht viel zu gewinnen sein. „Make Europe Great Again“– wer glaubt noch an die große europäische Erzählung? Der Patriotismus, der in den Mitgliedsländern schwelt und aufflammen könnte, ist einer der Nation und richtet sich damit gerade gegen ein Europa, das, verkörpert durch die EU, für das hiesige Gesicht der alles bedrohenden Globalisierung gehalten wird.
„Höllensturz“– so heißt auch ein aktuelles Buch zu Europa, das aber auf ganz andere Art aufzeigt, worum es hier geht. Es stammt vom britischen Historiker Ian Kershaw (dva, 768 S., 34,99 ¤) der darin die Katastrophen der Jahre 1914 bis 1949 beschreibt und damit eine Warnung für die Gegenwart. Die Ausbreitung von Rassismus, das Erstarken des Nationalismus, wachsende Konflikte zwischen Arm und Reich und eine eskalierende Krise des kapitalistischen Wirtschaftssystems haben damals nach Kershaw zum Zusammenbruch der Demokratien, des Miteinanders, in die Weltkriege geführt – und zum Erblühen imperialer Träume, das Europa heute an den Rändern miterlebt. Der Brite beschreibt es abschließend fast als ein Wunder, wie der Kontinent aus diesen Trümmern zu der Wohlstand und Stabilität sichernden Union werden konnte, als die sie denn vor einigen Jahren auch mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Geschichte mag sich nicht wiederholen, die heutigen Regierenden mögen nicht die Schlafwandler von einst sein – aber was auf dem Spiel steht, wird hier unübersehbar. Ein Länderbund übrigens auch, dem aktuell nur sieben Prozent der Weltbevölkerung angehören, der aber ein Viertel der Weltwirtschaftsleistung erbringt und sogar die Hälfte aller Sozialausgaben der Welt verteilt. Und diese Kraft soll sterben?
Um fortbestehen zu können, muss dieser Riese jedenfalls nicht nur reformiert, sondern neu gegründet werden. Das sagt der als Chef des Ifo-Instituts bekannt gewordene Ökonom Hans-Werner Sinn in „Der Schwarze Juni“(Herder, 384 S., 24,99 ¤) Die Union sei zu groß geworden, zu unkontrolliert gewachsen und zudem von Einzelinteressen gekapert – etwa zum Abschöpfen von Geldern aus der Transferunion. Der einzig mögliche Weg in die Zukunft führe deshalb weg von der Zentralisierung in Brüssel, hin zu einem lockereren Verbund der Staaten, organisiert wie in einem Freihandelsabkommen, das aber jedem Land die eigene Souveränität und Verantwortung zurückgebe. Sinn: „Die EU darf werden wie die Sowjetunion. Die war ein Zwangssystem, in dem alle durch Druck zusammengehalten wurden, und ist dadurch letztlich kollabiert.“Forderungen nach „Vereinigten Staaten von Europa“, wie sie vor Monaten etwa noch der Brite Brendan Simms und der Deutsche Benjamin Zeeb in ihrem Buch „Europa am Abgrund“(C.H. Beck, 140 S., 12,95 ¤) formuliert hatten, ist das diametral entgegengesetzt.
Einen Mittelweg wählt der Politikwissenschaftler Claus Offe in seinem Werk „Europa in der Falle“(Suhrkamp, 160 S., 15,99 ¤). Rückblickend hält er die Einführung des Euro zwar für einen entscheidenden Fehler, weil die politische Einbettung dieses wirtschaftlichen Schrittes gefehlt habe und sich eben nicht, wie erhofft, nach und nach ergeben habe. Sie habe vielmehr den einzelnen Ländern die Möglichkeiten aus der Hand genommen, Unwuchten individuell durch Abwertungen und Zölle auszutarieren. Und so habe wiederum der gemeinsame Wettbewerbsdruck, verwaltet von einer entpolitisierten EZB, dazu geführt, dass flächendeckend Steuern gesenkt und Sozialleistungen gekürzt wurden. Mit bekannten Folgen. Aber es wäre, so Offe, nun „ein noch größerer Fehler, diesen Fehler einfach rückgängig machen zu wollen“.
Denn tatsächlich seien die wesentlichen Herausforderungen jetzt nur noch mit der gebündelten Macht der EU zu bewältigen: die Finanzmärkte einhegen und die Brandherde Terror, Klima und Energie kontrollieren. Und vor allem, schreibt der Politikwissenschaftler, seien nach der Bankenrettung nun die Bürger an der Reihe. Es gelte, das Vertrauen der Menschen in die Handlungsfähigkeit der Politik zurückzugewinnen, demokratischere Strukturen zu errichten, aber auch massiv umzuverteilen. Denn durch die selbst gebaute Eurofalle seien die Staaten nun aneinandergekettet – und ein Zusammenbruch der Gemeinschaft käme alle teurer als eine gemeinsame Rettung der am schwersten Leidenden. Und da stünde unweigerlich vor allem Deutschland in der Pflicht. Hans-Werner Sinn würde seufzen. Aus genau dieser Haftung will er Deutschland eher verabschieden.
Und wiederum zwischen diesen beiden liegt Thomas Schmids „Europa ist tot, es lebe Europa!“(Bertelsmann, 256 S., 14,99 ¤). Auch er geht gegen das lange Jahre unverbrüchlich scheinende „mehr Europa“an und sieht die Union am „Rand des Offenbarungseids“. Nicht verkraftete Osterweiterung, Überforderung und Entsolidarisienicht rung durch die Flüchtlingskrise und vor allem der Fehler in der Grundkonstruktion: von oben eingesetzt worden zu sein und damit auf kein demokratisches Fundament in den Mitgliedsvölkern bauen zu können. Also plädiert Schmid für weniger Europa, für eine flexiblere Struktur, raus aus der gleichgestellten Union, aber nicht bis in die Lockerheit eines Freihandelsabkommens, sondern hin zu mehreren Assoziationsstufen, auch mit der Möglichkeit für Länder, zwischendurch auszuscheiden, ohne dadurch einen endgültigen Schnitt mit der Union machen zu müssen. Es ist eine Rückbesinnung auf die Konstruktion eines flexiblen Staatenverbundes, so wie das Bundesverfassungsgericht die EU 1993 nannte: mehrere Zentren und Vergemeinschaftung nur dort, wo sie notwendig ist, etwa in Fragen von Asyl und Zuwanderung.
Mit Hans-Werner Sinn eint Schmid, dass sie eine gemeinsame europäische Außenpolitik für notwendig halten, mit Claus Offe der Wunsch nach mehr politischer Verzahnung auch nach innen. Alle drei aber sind sich einig, dass die Rückkehr zum Nationalstaat keine Lösung sein kann. Mit anderen Worten: Europa darf nicht sterben. Aber dazu und um all der Skepsis zu begegnen, ist wohl nicht weniger nötig als das, was Thomas Schmid sagt: „Eine Weltmacht muss sich neu erfinden!“
„Der Euro war ein Fehler – ein Abschaffen jetzt wäre aber ein noch größerer“