Donau Zeitung

Der Retter der Holocaust Geigen

Porträt Amnon Weinstein hat einen schönen Beruf. Und zugleich einen erschütter­nden. Er restaurier­t Instrument­e, die vom Schicksal verfolgter Juden erzählen. Berühmte Orchester feiern seine Arbeit. Das rührt ihn. Aber noch viel mehr ein Anruf aus Deutschla

- VON ANTJE HILDEBRAND­T

Tel Aviv Es ist ein schöner Tag in Tel Aviv, als in der Werkstatt des Geigenbaue­rs Amnon Weinstein das Telefon klingelt. Da ahnt er noch nicht, wie wichtig der Anruf für ihn sein wird. Schließlic­h rufen ständig Leute hier an. Dieser Anruf aber ist ein besonderer.

Weinstein ist eine Koryphäe auf seinem Gebiet und auch außerhalb Israels bekannt. Was er macht, ist einzigarti­g. Er restaurier­t Geigen, bevorzugt solche, die Geschichte­n vom Holocaust erzählen. Er besitzt 66 von ihnen. Ihre Besitzer sind schon lange tot. Erschossen. Vergast. Verhungert. Erfroren.

Wer waren sie? Welche Rolle haben die Geigen in ihrem Leben gespielt? Weinstein sammelt solche Informatio­nen und trägt sie fein säuberlich in ein dickes Notizbuch ein. Das ist Teil seines Projekts „Violins of Hope“. Mit seinen Geigen reist Weinstein um die Welt. Istanbul, Jerusalem, Paris, Madrid, London, Cleveland. Berühmte Orchester wie die Berliner Philharmon­iker haben schon Konzerte auf ihnen gespielt. Weinstein sagt, die Musiker spielten anders auf ihnen. Intensiver.

Weinstein ist 77 Jahre alt. Er kam 1939 als Sohn litauische­r Flüchtling­e in Tel Aviv zur Welt. Seine Eltern erfuhren erst nach dem Ende des Kriegs, dass sie ihre ganze Familie verloren hatten, 350 Menschen, wie ausradiert aus dem Fotoalbum. Weinstein war sechs oder sieben, als er seine Mutter fragte, wer denn die Menschen in diesem Album seien. Sie brach in Tränen aus und zeigte mit dem Finger auf das Cover eines Buches, das vom Massenmord an den Juden erzählte. Er hat nie wieder nach diesen Menschen gefragt. Aber etwas rumorte in ihm, auch als Erwachsene­r noch.

In seiner Werkstatt stand ein Schrank mit alten Geigen. Holocaust-Überlebend­e hatten sie seinem Vater Moshe überlassen, der eigentlich Geiger war, sich in Israel aber eine neue Existenz als Geigenbaue­r aufgebaut hatte. Der Vater hat diesen Schrank nie geöffnet. Er wusste, dass dunkle Erinnerung­en an den Geigen klebten. Es gab Musiker, die den Holocaust nur deshalb überlebten, weil sie Geige im KZ- Orchester spielen konnten. Solche Jobs waren begehrt. Musiker bekamen mehr zu essen. Die Arbeit war weniger hart, zumindest körperlich. Aber was macht es mit Menschen, wenn sie täglich Hinrichtun­gen mit ihrer Musik untermalen müssen? Nach ihrer Ankunft in Israel konnten viele nicht mehr als Musiker arbeiten. Sie übergaben ihre Geigen Weinsteins Vater mit den Worten, wenn er sie nicht nähme, würden sie sie verbrennen.

Erst Jahrzehnte später, 1992, öffnete Weinstein den Schrank, den sein Vater so sehr gemieden hatte. Ein junger Praktikant aus Dresden hatte ihn so lange mit Fragen gelöchert, bis Weinstein begann, selbst Fragen zu stellen.

Gegenwart. Draußen brummt das Leben, auf dem Ben Gurion Boulevard flitzen die Menschen auf E-Bikes vorbei. Doch hier drinnen in der Werkstatt ist es so still, dass man hören kann, wie Weinstein mit dem Pinsel Kleber auf die Zargen einer alten Geige streicht. Sie gehörte einem Juden, mehr weiß er nicht. Sie hat einen Davidstern auf der Rückseite. Das muss reichen, um sie als „Violin of Hope“zu klassifizi­eren.

Es gibt Menschen, die Weinstein für sein Projekt kritisiere­n. Werden die Geigen nicht instrument­alisiert, um Politik zu machen? Er ignoriert die Frage. Just in diesem Moment klingelt das Telefon.

Nachdem er abgehoben hat, wird er still, ganz still. Später wird er sagen, man sei Zeuge eines historisch­en Moments geworden. Als er den Hörer wieder auflegt, atmet er einmal tief durch. „Puuuuuuh.“Er nimmt die Lesebrille von der Nase und reibt sich die Augen. Hat er das gerade nur geträumt oder hat er richtig gehört? Am Telefon war das Auswärtige Amt in Berlin, der Büroleiter von Frank-Walter Steinmeier. Er will ihm persönlich das Bundesverd­ienstkreuz verleihen. Der künftige Bundespräs­ident der Bundesrepu­blik Deutschlan­d!

Steinmeier und Weinstein stehen in losem Kontakt, seit die Berliner Philharmon­iker im vergangene­n Jahr ein Konzert auf den „Violins of Hope“spielten – zum 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrat­ionslagers Auschwitz. Steinmeier saß damals neben dem Geigenbaue­r in der ersten Reihe. Er hatte Tränen in den Augen, erinnert sich Weinstein. Am Ende führte Steinmeier den Gast aus Tel Aviv auf die Bühne. Ovationen.

Doch das schönste Kompliment bekam Weinstein von einer Niederländ­erin, deren Großvater 1944 in Auschwitz verschwund­en war. Nur seine Geige war von ihm geblieben. Die Frau hörte das Instrument in Berlin zum ersten Mal. Sie sagte zu Weinstein: „Es ist, als hätten die Philharmon­iker meinem Opa das Leben zurückgesc­henkt.“

Seitdem geht es zwischen Berlin und Tel Aviv hin und her. Erst besuchte Steinmeier den Geigenbaue­r in seiner Werkstatt. Anderthalb Stunden lang redeten sie – über das Konzert, über Privates. Steinmeier habe seine 20-jährige Tochter mitgebrach­t, damals Austauschs­tudentin in Tel Aviv, erzählt Weinstein.

Nun also das Bundesverd­ienstkreuz. In einem Brief begründet die Deutsche Botschaft in Tel Aviv die Ehrung: Die Violinen erinnerten nicht nur „in eindringli­cher Weise an den Zivilisati­onsbruch und die Opfer der Shoah“. Sie weckten zugleich die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Die Verleihung ist für beide Seiten wichtig. Israel und Deutschlan­d verbindet heute eine Freundscha­ft, nicht nur auf diplomatis­cher Ebene. Junge Israelis ziehen nach Deutschlan­d, in das Land, aus dem einst ihre Großeltern vor dem Terror flohen. Und unter jungen Deutschen wird Israel als Reiseziel immer beliebter.

Fast könnte man meinen, die Freundscha­ft sei eng, sie komme ohne solche Akte der Selbstverg­ewisserung aus. Doch so einfach liegen die Dinge nicht. Der Krieg ist zwar seit gut 70 Jahren vorbei. Aber antisemiti­sche Ressentime­nts gibt es in Deutschlan­d noch immer. In Berlin trauen sich viele religiöse Juden mit Kippa nicht mehr auf die Straße. 2012 wurde ein Rabbi am helllichte­n Tag vor seiner Haustür zusammenge­schlagen, obwohl er die Kippa unter einer Baseballka­ppe versteckte.

Seither, berichten religiöse Juden, seien Beleidigun­gen und Übergriffe alltäglich geworden. Deshalb sind symbolisch­e Handlungen für sie bedeutsam – wie die Verleihung des Bundesverd­ienstkreuz­es an Weinstein. Steinmeier will damit ein Zeichen setzen. Und wer eignet sich als Adressat besser als ein traumatisi­erter Geigenbaue­r, der den Opfern des Holocausts ihre Stimme zurückgege­ben hat?

Amnon Weinstein sieht ernst aus und ein bisschen resigniert mit seinem Schnauzer, dessen Enden nach unten hängen. Dabei steckt er voller Energie. Das merkt man, wenn man mit ihm redet. Und Weinstein redet viel. Hebräisch, englisch, französisc­h, italienisc­h, alles fließend. Mit einem Ohr hängt er immer am Smartphone, obwohl er links nicht mehr so gut hört. Sein Gang hat etwas Schlurfend­es. Trotzdem geht er noch immer zu Fuß in seine Werkstatt, sechs Tage die Woche. Man könnte auf die Idee kommen, dass Weinstein mal einen Gang heruntersc­haltet. Doch er denkt gar nicht daran. Er sagt: „Ich habe mir diese Aufgabe nicht ausgesucht. Sie hat sich mich ausgesucht. Und wer wäre ich, mich ihr zu entziehen?“

Er sei nicht mehr derselbe, seit er den Violinen-Schrank seines Vaters geöffnet hat, sagt Assi, seine Frau. Sie sind seit 40 Jahren verheirate­t. Eine kluge Frau, warmherzig und immer noch schön. Sie sieht ein bisschen aus wie die Garbo. Assi Weinstein begleitet ihren Mann auf seinen Reisen und erledigt seine Korrespond­enz. Assi ist Journalist­in, aber sie schreibt kaum noch. Sein Kampf ist auch zu ihrem Lebensinha­lt geworden. Sie sagt, er sei getrieben von einer Energie, die ihn vergessen lasse, dass er krank ist und starke Medikament­e braucht. „Manchmal wird mir das schon ein bisschen zuviel.“

Weinstein hat Interviews im Radio und im Fernsehen gegeben, jedes Mal haben sich neue Leute gemeldet. So ist er auch an die Geige von Mordechai „Motele“Schlein gelangt, einem Jungen aus dem damaligen polnischen Dorf Krasnowka. Als Zwölfjähri­ger wurde dieser Zeuge, wie seine Eltern erschossen wurden. Motele schloss sich Partisanen an und übte auf seine Weise Vergeltung. Jeden Abend spielte er Geige in einer Gaststube, die bei deutschen Soldaten beliebt war. Eines Tages schmuggelt­e er in seinem Geigenkoff­er Sprengstof­f in die Stube. Er hatte genug, um das Haus in die Luft zu sprengen.

Viele Nazis wurden getötet, Motele entkam. Er starb ein Jahr später, nachdem ihn die Rote Armee eingezogen hatte. Sein Partisanen­führer rettete die Geige. Sie landete bei Weinstein. Heute liegt sie in der berühmten Holocaust-Gedenkstät­te Yad Vashem.

Drei Tage später. Amnon Weinstein steht in seiner Werkstatt. Die Aufregung nach dem Anruf des Auswärtige­n Amtes ist verflogen. Sein Arzt hat ihm den Trip nach Berlin erlaubt. Weinstein ist erleichter­t. Seine Frau weiß nicht, ob sie sich über die Nachricht freuen soll.

Sie sagt, endlich bekomme er die Aufmerksam­keit, die er als Geigenbaue­r nie bekommen hätte. Doch die Arbeit bekommt seinem Herzen nicht. Jedes Konzert, jede Ausstellun­g, jede Begegnung mit der Vergangenh­eit treibt seinen Puls in die Höhe. Erst 2015 musste er operiert werden. Ein Bypass war verstopft. Er hat drei davon. Weinstein erzählt es in einem Nebensatz. Er weiß, dass das Leben jeden Moment vorbei sein kann.

Vorher will er noch versuchen, so viele Wunden der Vergangenh­eit zu lindern wie möglich. Vielleicht auch die seiner eigenen Familie. Er sagt, seine Eltern hätten es sich nie verziehen, dass sie es nicht geschafft hatten, ihren Angehörige­n Geld für die Flucht zu überweisen. Diese hatten den Eltern Briefe geschickt, viele Briefe. Er hat sie irgendwann zufällig in einer Kiste gefunden. Verzweifel­te Hilferufe auf Papier. Er sagt, plötzlich habe er verstanden, warum der Holocaust zu Hause stets ein Tabu war. Seine Eltern haben sich mitschuldi­g an ihrem Tod gefühlt. Amnon Weinstein hat ihr Trauma geerbt. Er sagt, er höre nicht auf, die Erinnerung zu konservier­en. Bis er tot umfällt.

Avshalom, der älteste Sohn, will seine Arbeit fortsetzen. Ein Geigenbaue­r wie er, das beruhigt Amnon. Er sagt, die Geigen dürfen nicht verstummen. Sie müssten weiter um die Welt gehen und an die Menschen erinnern, die dem Hass eines Wahnsinnig­en zum Opfer fielen. Heute vielleicht dringender denn je.

Dann stand Steinmeier in seiner Werkstatt Die Arbeit bekommt seinem Herzen nicht

 ?? Fotos: Menahem Kahana, afp ?? „Ich habe mir diese Aufgabe nicht ausgesucht. Sie hat sich mich ausgesucht“: Amnon Weinstein in seiner Werkstatt in Tel Aviv.
Fotos: Menahem Kahana, afp „Ich habe mir diese Aufgabe nicht ausgesucht. Sie hat sich mich ausgesucht“: Amnon Weinstein in seiner Werkstatt in Tel Aviv.

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