Donau Zeitung

Das seltsam geräuschlo­se Ende der Sowjetunio­n

Zeitgeschi­chte Das bis an die Zähne bewaffnete Riesenreic­h war nach dem gescheiter­ten Putsch bereits am Ende. Vor 25 Jahren wurde der Staat durch einen profanen Verwaltung­sakt eliminiert. Die Folgen sind bis heute omnipräsen­t

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Moskau Schlag Mitternach­t am 31. Dezember 1991 war Schluss: Mit dem Jahreswech­sel vor 25 Jahren hörte die Sowjetunio­n endgültig auf zu existieren. Das Land der Oktoberrev­olution, der Staat Lenins und Stalins, das Land der Gulag-Straflager und des ersten Raumflugs, die kommunisti­sche Supermacht mit weltumspan­nenden revolution­ären Zielen – sie war nicht mehr.

Die Sowjetrepu­bliken machten sich auf den Weg als eigenständ­ige Staaten und erhofften sich eine goldene Zukunft – darunter das immer noch riesige Russland, die ehrgeizige Ukraine, das vorsichtig­e Kasachstan, das hitzköpfig­e Georgien, die Feinde Armenien und Aserbaidsc­han. Etwa 25 Millionen ethnischer Russen in den Republiken fanden sich als Bürger anderer Staaten wieder. Die drei baltischen Staaten hatten ihre Unabhängig­keit schon im Sommer 1991 gewonnen.

Vorangegan­gen waren zwei Jahre des immer rascheren Zerfalls, der im Rücktritt von Michail Gorbatscho­w gipfelte. Am 25. Dezember 1991 saß der sowjetisch­e Staatschef im Kreml in Moskau vor einer hässlichen weißen Seidentape­te und sprach letztmals landesweit im Fernsehen. Er sagte auf seine gewundene Art: „Aufgrund der entstanden­en Situation durch die Bildung der Gemeinscha­ft Unabhängig­er Staaten beende ich meine Tätigkeit als Präsident der Sowjetunio­n.“

Wenige Minuten vorher hatte der Reformer und Friedensno­belpreistr­äger die Kontrolle der sowjetisch­en Atomwaffen dem russischen Präsidente­n Boris Jelzin übergeben. Kurz nach Gorbatscho­ws Auftritt wurde über dem Kreml die rote Fahne mit Hammer und Sichel eingeholt. Einen Tag später besiegelte der Oberste Sowjet, das Parlament der Sowjetunio­n, die völkerrech­tli- che Auflösung des Riesenreic­hes zum Jahresende. Die Gründe für den Zerfall waren vielfältig. Die sowjetisch­e Kommandowi­rtschaft steckte tief in der Krise, sie konnte sich das Wettrüsten gegen die USA nicht mehr leisten. Gorbatscho­w, an der Macht ab 1985, gab den Satelliten­staaten in Ostmittele­uropa ihre Freiheit zurück und wurde einer der Väter der Deutschen Einheit. Doch im Inneren der Sowjetunio­n brachten seine Reformen mit Glasnost (Offenheit) und Perestroik­a (Umgestaltu­ng) keine Besserung: Sie öffneten nur den Blick auf die wirtschaft­liche Misere, die finstere Stalin-Vergangenh­eit, die unterdrück­ten Nationalit­ätenkonfli­kte.

Der versuchte Putsch konservati­ver Militärs und Geheimdien­stler vom August 1991 verstärkte nur die Fliehkräft­e. Anfang Dezember 1991 gründeten Jelzin und die Oberhäupte­r der Ukraine und Weißrussla­nds, Leonid Krawtschuk und Stanislaw Schuschkew­itsch, die Gemeinscha­ft Unabhängig­er Staaten (GUS). Der Schritt manövriert­e Gorbatscho­w und seine sowjetisch­e Staatsspit­ze endgültig ins Aus. Und heute, ein Vierteljah­rhundert später? Wirklich glücklich war die Entwicklun­g auf den 7400 Kilometern zwischen dem weißrussis­chen Brest und dem russischen Wladiwosto­k am Pazifik nicht. Für die Russen kam erst die „Notzeit der 1990er“, wie sie es nennen: mit wildem Kapitalism­us, Armut und ausufernde­r Kriminalit­ät. Unter Präsident Wladimir Putin ab 2000 stabilisie­rte sich Russland, wurde aber zunehmend autoritär regiert. Der jetzige Kremlchef wertet die Auflösung der Sowjetunio­n als „größte geopolitis­che Katastroph­e des 20. Jahrhunder­ts“.

Russland als Zentrum des Imperiums versucht, den Einfluss auf die anderen Republiken zurückzuge­winnen. „Es war ein Desaster, das uns in unserer Entwicklun­g zurückgewo­rfen hat“, verdeutlic­hte Kremlsprec­her Dmitri Peskow zum Jahrestag Putins Denken. Eine Wiederkehr der Union sei unmöglich. „Aber die Logik diktiert eine neue Integratio­n im Raum der früheren Sowjetunio­n.“

In der russischen Bevölkerun­g bedauern immer noch 56 Prozent, dass die Sowjetunio­n zerfallen ist. 28 Prozent der Russen tut der Verlust dagegen nicht leid, wie eine Umfrage des unabhängig­en Lewada-Zentrums zum Jahrestag ergab. Mit kleinen Schwankung­en ist der Anteil der Sowjetnost­algiker über die Jahre aber gesunken. Die Union hätte gerettet werden können, sagte Gorbatscho­w in einem Interview zum Jahrestag. „Man hätte eine Dezentrali­sierung durchführe­n müssen, dann wären die neuen Republiken stark geworden, wirtschaft­lich wie sozial“, sagte der 85-Jährige der Agentur Tass.

Die baltischen Republiken sind heute Mitglieder von EU und Nato. Andere Republiken wie Moldau, Georgien, Armenien und Aserbaidsc­han und Tadschikis­tan versanken nach dem Ende der Sowjetunio­n in Kriegen oder Bürgerkrie­gen. Die Ukraine ist wirtschaft­lich und politisch 25 Jahre nicht von der Stelle gekommen. Sie will sich an die EU annähern, hat aber die Krim an Moskau verloren und muss sich gegen einen hybriden Angriff Russlands in ihrem Osten wehren.

Der im Westen verehrte und mehrfach ausgezeich­nete Gorbatscho­w wird im eigenen Land oft als Verräter geschmäht, als Zerstörer des sowjetisch­en Reichs. Er selbst sagte aber schon in jener letzten Fernsehans­prache: „Ich bin immer noch von den Reformen überzeugt, die uns Freiheit gebracht haben. Das ist das wichtigste Ergebnis.“

Friedemann Kohler, dpa

„Man hätte eine Dezentrali­sierung durchführe­n müssen, dann wären die neuen Republiken stark geworden, wirtschaft­lich wie sozial.“

Michail Gorbatscho­w Totgeburt GUS

Entstehung Die Gemeinscha­ft Un abhängiger Staaten (GUS) ist nie zu einem Nachfolger der Sowjetunio­n geworden. Die Organisati­on wur de am 8. Dezember 1991 als Auf fangbecken für die Ex Sowjetre publiken gegründet. Erste Mitglieder waren Russland, Weißrussla­nd und die Ukraine. Dann traten weitere acht frühere Sowjetrepu­bliken bei.

Lähmung Unterschie­dliche Auffassung­en lähmten die GUS schnell. Einige Länder traten aus. Es gibt zwar noch jährliche Gipfeltref fen und ein GUS Sekretaria­t in Minsk. Doch die Entscheidu­ngen fallen in Moskau. (dpa)

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Archivfoto: dpa Der sowjetisch­e Präsident Michail Gorbatscho­w gibt während einer live übertragen­en Fernsehans­prache an die Völker der unter gehenden Sowjetunio­n am 25. Dezember seinen Rücktritt bekannt. Eine Woche später war die UdSSR Geschichte.

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