Luigi Malerba – Die nackten Masken (76)
Und so ziehen sie es denn vor, Stärke zu zeigen oder das, was sie ganz einfach bekommen könnten, wenn sie ihre Gefühle und ihre Schwächen offen zeigten, mit Geld zu kaufen. Nur so konnte sie sich diese Entführung erklären. Sie drückte den Rosenstrauß und den Brief Cosimo Rolandos an ihre Brust. Auf der Höhe der Tiberinsel bog der Karren in die Straße des Monte Savello ein, wo ein paar plötzliche Windstöße Staubwirbel hochtrieben und die Plane, unter der die junge Gefangene saß, hin und her schlugen. Dann fuhr er längs des Tiberufers zur Via dei Pettinari und von dort durch ein Gewirr von Gäßchen, um die Via Giulia gemäß den Anweisungen zu umgehen, und gelangte schließlich zur Piazza dell’Oro. Palmira schob die Plane zur Seite, um hinauszuschauen, und sie erkannte den Platz; aber ehe sie den Palast des Kardinals erreichten, blieb der Karren ruckartig stehen und der Mann auf dem Kutschbock wandte sich an die beiden Halunken.
„Da muß was passiert sein, es stehen so viele Leute vor dem Palast. Ich begreife das nicht. Auch berittene Gendarmen.“
Einer der beiden Männer stieg vom Karren und näherte sich zu Fuß der kleinen Menschenmenge. Palmira wollte ebenfalls aussteigen, aber der andere Mann hielt sie zurück. „Laß mich gefälligst aussteigen.“
„Wir wollen zuerst wissen, was passiert ist.“Nach einer Weile kehrte der andere bestürzt und mit langem Gesicht zurück. „Er sagt, man hat ihn ermordet!“„Wen?“„Den Kardinal. Heute morgen in aller Frühe; ein Unbekannter mit zwei schnellen Dolchstößen.“
„Was für ein Chaos! Und wer bezahlt uns jetzt?“fragten die beiden Halunken. Dann wandten sie sich an Palmira.
„Du kannst jetzt hingehn, wo der Pfeffer wächst.“Palmira hatte ihr Gesicht mit den Händen bedeckt, nachdem sie die Nachricht vernom- men hatte. Sie stieg vom Karren, ihren langen Mantel über den Schultern und den Rosenstrauß mit dem Brief von Cosimo Rolando in den Händen. Wann endlich würden die besseren Zeiten für sie beginnen?
Verzweifelt sagte sie sich, daß man nicht nur durch den Dolch sterben kann, sondern auch durch Einsamkeit. Sie sah auf ihre langen roten Haare, die ihr übers Gesicht fielen, und ging langsam in Richtung ihrer Wohnung am Weißen Brunnen, ohne darauf zu achten, wohin sie ihre Füße setzte, denn es war etwas geschehen, das alles – die Straße, die Stadt, die Erinnerung – ausgelöscht hatte.
SIEBTES BILD Die Ankunft
Die Schrecken der Pest und die Gerüchte über immer zahlreichere Opfer, über die täglichen Toten, die oft auf den öffentlichen Wegen liegenblieben, hatten viele Römer dazu veranlaßt, aufs Land zu flüchten, was Baldesar Castiglione folgendermaßen beschrieb: „Rom sieht aus wie ein geplündertes Kloster, weil sich eine unendliche Zahl von Personen fortbegeben hat.“
Auch viele Prälaten der römischen Kurie hatten sich auf ihre Landsitze in Viterbo, Orvieto, Capranica, Genzano, Albano, Palestrina zurückgezogen. So weit verstreut und fern von Rom, erreichte nicht alle rechtzeitig die Benachrichtigung, daß sie der Begrüßung des neuen Papstes beiwohnen sollten, die im herrlichen Kreuzgang der Basilika von San Paolo fuori le Mura stattfand. Vielleicht aber zog manch einer es vor, die Einladung zu ignorieren und aus Angst vor Anstekkung auf dem Land zu bleiben. Trotz des feierlichen Anlasses und der Gewichtigkeit der Einladung wies die Reihe der Kardinäle, die sich zur Zeremonie einfanden, beträchtliche Lücken auf.
Vielleicht lag darin der Grund, warum nur wenige bemerkten, daß die Kardinäle Valerio Ottoboni und Cosimo Rolando della Torre beim Appell fehlten, und diejenigen, welche die Abwesenheit der beiden Purpurträger bemerkten, dachten sich nichts weiter dabei. Selbst der Papst wurde im Moment nicht der so zahlreichen Abwesenheiten gewahr. Hadrian, eingeführt vom Prior der Basilika, empfing im Kreuzgang die Kardinäle mit einem Lächeln für jeden einzelnen – ohne Unterschied des Alters, des Namens, noch des Ansehens. Gleich darauf wurden die Kardinäle in der nüchternen Sakristei in einfacher Form und in Demut zum Ringkuß vorgelassen. Schließlich hielt Kardinal Carjaval in seiner Eigenschaft als Dekan und Bischof von Ostia eine Rede, in der er ein Programm der Reformen umriß, von dem einige meinten, daß es insgeheim mit dem neuen Papst abgestimmt worden sei, der es in der Tat ohne Vorbehalt billigte. Die Punkte, die Carjaval hervorhob, betrafen vor allem die Laster, welche die römische Kirche korrumpierten, und an erster Stelle die Simonie, den Nepotismus, die Verschwendung, den Wettlauf um die Pfründen und anderes Unheil, hervorgerufen durch die Anwesenheit des Bösen in der Hauptstadt der Christenheit. Also forderte er den neuen Papst auf, sich mit guten Ratgebern zu umgeben, um den Mißbrauch der Amtsgewalt zu zügeln, Gerechtigkeit zu schaffen, für die Armen zu sorgen, und Geld zu sammeln für einen Kreuzzug gegen die Türken, welche Ungarn und Rhodos bedrohten – und vor allem: die Ämter mit würdigen Personen zu besetzen. Zu oft, so mahnte er die anwesenden Kardinäle, seien heftige Konkurrenzkämpfe um den Besitz einträglicher Ämter entbrannt, und das sei schädlich gewesen für die Apostolische Römisch-Katholische Kirche sowie für das Herz der Menschen. In einer kurzen Antwort an Carjaval dankte der neue Papst erst Gott, dann den Kardinälen für seine Wahl, und erklärte sich hierauf entschlossen, die Unordnung einzudämmen, welche die Hauptstadt verseucht habe, „wegen der Sünden der Menschen, aber viel mehr noch derer der Priester und Prälaten der Kirche“, und er fuhr fort mit einer Behauptung, die alle Anwesenden erstarren ließ: „Wir wissen, daß auf dieser Stätte des Heiligen Stuhls ruchlose Dinge vorgefallen sind, Mißbräuche in geistlichen Dingen, und Ausschreitungen betreffend die Gebote und noch andere Dinge.“
Der neue Papst konnte nicht ahnen, daß sich eine Bestätigung der „ruchlosen Dinge“, auf die er angespielt hatte, sich gerade vor seinen Augen befand, nämlich die leeren Sitze der Hochwürdigsten Kardinäle Cosimo Rolando della Torre und Valerio Ottoboni. Zur Unterstützung seiner Reformprojekte und in Erwartung besserer Zeiten bot er die Purpurträger um Verzicht auf das Recht, Bösewichtern Unterschlupf zu gewähren, und um Hilfe mit Gebeten und guten und ehrenhaften Werken. Aus seinen wenigen aber starken Worten verstanden die Kardinäle, daß sich in Rom vieles ändern würde – zum Besseren oder zum Schlechteren, wie es stets in der Geschichte geht – und daß die besseren Zeiten, die der neue Papst verkündete, für viele von ihnen schlechtere sein würden.
ENDE