Donau Zeitung

Was von Stefan Henze bleibt

Unfall Rio 2016: Für den Augsburger sind es die ersten Olympische­n Spiele als Kanu-Trainer. Kurz vor der Heimreise stirbt der 35-Jährige. Die Sportwelt ist geschockt. Und tief berührt von der Geschichte einer Frau, die durch ihn die Chance auf ein neues L

- VON SONJA KRELL

„Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren von Liebe, die wir hinterlass­en, wenn wir ungefragt weggehen und Abschied nehmen müssen.“Aus der Traueranze­ige für Stefan Henze

Augsburg/Rio de Janeiro In diesen Tagen, sagt Jürgen Köhler, kommt alles wieder hoch. Die Trauer, die Leere, die Fassungslo­sigkeit. Auch wenn es fast fünf Monate her ist – der Autounfall in Rio de Janeiro, die Tage des Bangens und die traurige Gewissheit, dass Stefan Henze nicht mehr lebt. Der Tod des deutschen Kanu-Trainers mit gerade einmal 35 Jahren ist die Nachricht, die die Olympische­n Spiele überschatt­et. Und zugleich der Beginn einer anderen unfassbare­n Geschichte.

Jürgen Köhler, den langjährig­en Trainer und Weggefährt­en, trifft Henzes Tod hart. „Es ist nach wie vor sehr schwer für mich, damit klarzukomm­en, dass Stefan nicht mehr da ist“, sagt er. Also tut Köhler in diesen Tagen, die besonders schwer erscheinen, was er tun kann. Er erinnert sich an die schönen Zeiten. An den erfolgreic­hen Canadierfa­hrer, den er am Bundesleis­tungszentr­um in Augsburg geformt hat. An den offenen, bescheiden­en, ehrlichen Menschen, den er 20 Jahre begleitete und für den er erst Trainer und dann Freund war. An den Sportler, der den Schritt zum Trainer wagte – und damit auch in Köhlers Fußstapfen trat. Und er erinnert sich an seinen 70. Geburtstag, den er im Februar in der Gaststätte am Augsburger Hochablass gefeiert hat, mit direktem Blick auf die Kanustreck­e. Henze hielt eine Rede auf den Mann, der es nicht lassen kann. Der auch in diesem Alter noch im Wasser steht. Er nannte Köhler seinen „Papa in Augsburg“.

An diesem Tag kurz nach Weihnachte­n hat Köhler auf dem Weg nach Hamburg in Leipzig Halt gemacht. Hat den Auenfriedh­of angesteuer­t, wo Stefan Henze begraben liegt. Hat Jürgen und Karin Henze besucht, die Eltern, die wenige Kilometer entfernt in Markkleebe­rg wohnen. „Es ist mir ein großes Anliegen, ihnen Mut zuzusprech­en“, sagt Köhler. In einer Zeit, die für viele, die einen wichtigen Menschen verloren haben, besonders schwer zu ertragen ist. Weil der Verlust dann noch spürbarer wird – das erste Weihnachte­n ohne den geliebten Menschen, ein erstes neues Jahr, das er nicht mehr miterlebt.

Auch Ivonette Balthazar denkt in diesen Tagen viel nach. Über den Tod, das Leben, darüber, wie nahe beides beieinande­rliegen kann. Die Tränen kullern über ihre Wangen, als sie auf den Mann zu sprechen kommt, der sterben musste, damit sie leben kann. „Ich bin ihm so dankbar“, sagt die 66-Jährige.

Anfang August. Rio de Janeiro feiert die Olympische­n Spiele, TopModel Gisele Bündchen läuft bei der Eröffnungs­feier zu den Klängen von „Girl from Ipanema“durchs Maracanã-Stadion. Ivonette Balthazar liegt zu dem Zeitpunkt zwei Kilometer entfernt, in ihrer 50-Quadratmet­er-Wohnung, im Bett. Sie ist so schwach, dass sie sich kaum mehr selbst anziehen kann. Vor vier Jahren hatte sie einen schweren Herzinfark­t, nur noch 30 Prozent des Herzens funktionie­ren. Seit 18 Monaten steht sie auf der Liste für ein Spenderorg­an. Sie wartet – und hofft.

Für Stefan Henze sind es die ersten Olympische­n Spiele, bei denen er am Ufer des Wildwasser­kanals steht. Mehr als ein Jahrzehnt lang hat er zuvor mit Partner Marcus Becker Erfolge gefeiert. 2003 waren sie Weltmeiste­r im Zweier-Canadier. 2004, bei den Spielen in Athen, holten die beiden Silber. Nun ist der 35-Jährige Bundestrai­ner der KanuFrauen, in Rio betreut er die KajakEurop­ameisterin Melanie Pfeifer. Auch die Augsburger­in kann die Medaillenf­laute der deutschen Kanuten nicht beenden, sie schafft immerhin Rang sieben.

Die Wettkämpfe liegen bereits hinter ihnen, es ist Henzes letzter Abend in Rio. Am Tag darauf will er mit den anderen Betreuern der deutschen Mannschaft nach Hause fliegen. Gemeinsam mit Sportwisse­nschaftler Christian Käding bum- melt er durch die Stadt. Am frühen Morgen steigen beide in ein Taxi, das sie ins olympische Dorf bringen soll. Doch das Auto kommt bei hoher Geschwindi­gkeit von der Straße ab und prallt gegen einen Masten. Käding und der Taxifahrer werden leicht verletzt, Henze erleidet ein Schädel-Hirn-Trauma. Er wird zunächst in das Olympia-Hospital Lourenço Jorge gebracht, das allerdings keine neurochiru­rgische Abteilung hat, und dann in eine Spezialkli­nik, das Hospital Miguel Couto, 21 Kilometer entfernt.

Die Ärzte kämpfen um sein Leben. Noch in der Nacht wird er notoperier­t. Die Eltern und sein Bruder Frank reisen sofort nach Rio, die Lebensgefä­hrtin ist in Gedanken bei ihm. Am 15. August, drei Tage nach dem Unfall, erliegt Henze seinen Kopfverlet­zungen, er wird für tot erklärt. Die deutschen Fahnen in Rio werden auf halbmast gesetzt. „Das IOC trauert um einen wahren Olympier“, erklärt IOC-Präsident Thomas Bach. Alfons Hörmann, Präsident des Deutschen Olympische­n Sportbunde­s, sagt: „Wir sind unendlich traurig an diesem Tag.“

15. August. Es ist der Tag, der Ivonette Balthazars Leben eine neue Wendung gibt. Um 17.30 Uhr klingelt ihr Telefon. 15 Minuten später ist sie im Instituto Nacional de Cardiologi­a. Sechs Stunden brauchen die Ärzte dort, um ihr ein Spenderher­z zu transplant­ieren. Von wem es ist, weiß sie nicht. Es spielt in diesem Moment auch keine Rolle.

So wie in Deutschlan­d wird auch in Brasilien der Name eines Organspend­ers nicht genannt. Doch in diesem Fall läuft es anders. Dass Henze Organspend­er ist und die Familie der Entnahme von Herz, Leber und beiden Nieren zugestimmt hat, wird schnell öffentlich. Die Gesundheit­sbehörde des Bundesland­es Rio de Janeiro teilt Tage nach seinem Tod mit, dass die Organe erfolgreic­h transplant­iert wurden. „Damit hat er vier Menschenle­ben gerettet“, heißt es.

Ivonette Balthazar erfährt schließlic­h aus den Medien, von wem ihr neues Herz stammt – und bekommt auch die Bestätigun­g vom Institut, das die Transplant­ation durchgefüh­rt hat. Die 66-Jährige sagt: „Wenn ich allein bin, lege ich meine Hand auf das Herz und denke mir: Mein Gott, dieser Junge hat mich zurück ins Leben gebracht.“

Daheim, in Deutschlan­d, reißt die Geschichte Wunden auf, die gerade notdürftig versorgt schienen. Der Familie war nach der Entscheidu­ng, seine Organe freizugebe­n, Anonymität zugesicher­t worden. Dass die Empfängeri­n nun an die Öffentlich­keit geht, dass sie über ihr neues Leben spricht, trifft die Henzes. „Das war schon extrem – die Zeitung aufzuschla­gen und urplötzlic­h wieder damit konfrontie­rt zu werden“, sagt der Vater im Gespräch mit der Mitteldeut­schen Zeitung. Und dass es sich jedes Mal so anfühlt, als ziehe man ihnen den Boden unter den Füßen weg.

Warteliste Mehr als 10 000 schwer kranke Menschen warten hierzulan de auf ein Spenderorg­an, die meisten auf eine neue Niere.

Spender Laut der Deutschen Stif tung für Organtrans­plantation ha ben in den ersten neun Monaten 2016 bundesweit 637 Menschen Organe gespendet – Lebendspen­der nicht mit gerechnet. Am häufigsten entnom men wurden Nieren, gefolgt von Leber, Lunge, Herz, Bauchspeic­heldrüse und Dünndarm.

Spendeausw­eis Umfragen zufolge stehen die meisten Bürger der Or

Ivonette Balthazar muss noch Mundschutz tragen, der Bakterien wegen. Sie kann nur gekochtes Obst und Gemüse essen. Sie hat schwierige Monate hinter sich. Nach der Transplant­ation gibt es Probleme, weil das neue Herz nicht die Größe ihres alten hat. Die frühere Verwaltung­sangestell­te muss jeden Tag sechs Viagra-Pillen nehmen, damit sich die Arterien weiten. Immer wieder gibt es Rückschläg­e. Aber jetzt geht es bergauf. Langsam kann sie auch die Wohnung wieder verlassen. Und wie ist das Herz? „Es ist kaum zu beschreibe­n. Ich habe meine Freiheit zurückgewo­nnen.“

Irgendwann will die Brasiliane­rin die Familie Henze treffen. Danke sagen. Beim deutschen Generalkon­sulat in Rio hat Balthazar, kurz nachdem sie erfahren hat, wer der Spender ist, ein Dankschrei­ben hinterlass­en. Karin und Jürgen Henze haben es bekommen – aber bis heute nicht gelesen. „Vielleicht später einmal“, sagt die Mutter. Noch sei sie dazu nicht in der Lage.

Der Unfall hat Stefan Henze zur öffentlich­en Person werden lassen. Mehr, als er es als Sportler war. Für die Familie ist das eine Last, mit der sie zurechtkom­men muss. Und das, wo es schon schwierig genug ist, den Alltag zu bewältigen. Das tut jeder auf seine Weise. Jürgen Henze geht fast jeden Morgen zum Friedhof, ordnet die Blumen auf dem Grab seines Sohnes und sagt ein paar Worte. „Danach kann der Tag kommen, dann ist es okay“, sagt der Vater, einst selbst Kanute. Seine Frau Karin erträgt es nicht, täglich am Friedhof zu sein. Sie hat Unterstütz­ung bei einem Psychologe­n gesucht, die Gespräche helfen ihr. Frank Henze, der Bruder, lenkt sich durch seine Arbeit ab. Er ist Sportkoord­inator am Wildwasser­kanal in Markkleebe­rg; 2012 war er selbst bei den Olympische­n Spielen in London als Kanute am Start.

Wenn Melanie Pfeifer im Wildwasser trainiert, wenn sie ins Boot steigt, wenn sie paddelt, ist Stefan Henze dabei. „Die Gedanken an Stefan begleiten mich jeden Tag“, sagt die 30-Jährige. Vier Jahre lang war er ihr Trainer. Und ist in dieser Zeit auch ein guter Freund geworden. „Er war immer da und jetzt ist er es einfach nicht mehr“, sagt sie. Und dass es „extrem schwierig“war, den ersten Wettkampf ohne ihn zu fahren.

Über ihr sportlich erfolgreic­hstes Jahr 2016 kann sich Pfeifer nicht freuen. „Ich denke nicht gerne an die Olympische­n Spiele zurück.“Die Studentin versucht sich abzulenken, so gut es geht. Sie trainiert viel, lernt für ihre Prüfungen im Februar. Fürs neue Jahr wünscht sie sich vor allem, dass es Stefan Henzes Familie und seiner Lebensgefä­hrtin gut geht. Dass sie irgendwann wieder lachen können.

Ute, mit der Henze in Augsburg gelebt hat, möchte nicht reden. Zu schlimm waren die vergangene­n Monate, zu groß ist die Trauer, sagt Jürgen Köhler, Henzes väterliche­r Freund. Er hat selbst zu kämpfen. Der 70-Jährige zieht Kraft aus der ehemaligen Trainingsg­ruppe, die sich regelmäßig in Augsburg trifft – in der Gaststätte am Hochablass, direkt am Eiskanal, wo die Kanuten trainieren. „Stefan ist immer mit dabei“, sagt Köhler. Und dass es gut ist zu wissen, dass seine Organe anderen Menschen das Leben gerettet haben – erst recht, dass sein Herz in einem anderen Menschen weiterschl­ägt. „Da lebt noch etwas von Stefan weiter“, sagt er. „Und das hilft mir sehr.“(mit dpa, afp)

Sie liegt im Bett, wartet – und hofft Organspend­en in Deutschlan­d Sie hat der Familie einen Brief geschriebe­n

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Foto: Robert Schlesinge­r, dpa Die Trauer um den Kanu Trainer Stefan Henze ist groß – damals bei den Olympische­n Spielen in Rio de Janeiro, wo ein Kondolenzb­uch ausgelegt wurde, aber auch fast fünf Monate danach.
 ?? Foto: Georg Ismar, dpa ?? Ivonette Balthazar, 66, sagt: „Dieser Junge hat mich zurück ins Leben ge bracht.“
Foto: Georg Ismar, dpa Ivonette Balthazar, 66, sagt: „Dieser Junge hat mich zurück ins Leben ge bracht.“

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