Reden über das Unfassbare
Krisenintervention Bei schweren Unfällen wie in Bad Grönenbach oder anderen Katastrophen betreuen freiwillige Helfer Opfer, Angehörige und Rettungskräfte. Was daran so schwierig ist
Bad Grönenbach/Woringen Walter Müller, 64, erhielt den Anruf in der Silvesternacht um 1.30 Uhr. Seine Rufbereitschaft als Mitglied des Kriseninventionsdienstes (KID) beim Memminger Roten Kreuz war eigentlich schon beendet. Doch nach dem verheerenden Unfall auf der A 7 mit sechs toten jungen Leuten und zahlreichen Verletzten wurden psychologisch geschulte Menschen benötigt, die sich um Verletzte, Angehörige und Einsatzkräfte kümmern.
Wenig später war Müller mit sieben weiteren KIDlern am Unfallort. Das Rote Kreuz Memmingen/Unterallgäu arbeite eng mit den Betreuern der kirchlichen Notfallseelsorge zusammen, berichtet er. Der 64-Jährige hat sich schon oft um Verletzte oder Angehörige gekümmert, hat Todesnachrichten überbracht.
Bei dieser schwierigen Aufgabe begleiten KIDler die Polizeibeamten. Bei dem Unglück in der Neujahrsnacht wurden bei Müller Erinnerungen an Silvester vor drei Jahren wach. Da musste er Eltern die Nachricht vom Tod ihres Sohnes überbringen. „Die Mutter hat es einfach nicht geglaubt, der Vater wirkte apathisch und hat sich immer wieder abgelenkt“, erzählt Müller. Er sei noch eine ganze Weile bei der Familie geblieben: „Manchmal geht es nur ums da sein.“
Danach fuhr Müller nach Hause, um mit seiner Familie Silvester zu feiern. Ihm sei es an diesem Abend „fantastisch“gegangen, sagt Müller: „Wir haben den Menschen helfen können, dass sie ihre Trauer zulassen konnten.“Das sei für ihn ein „erfüllender Gedanke“gewesen. Müller weiß aus Erfahrung: Jeder Mensch reagiere anders, wenn er vom Tod eines Nahestehenden erfährt: „Du musst auf jede Reaktion gefasst sein.“
Traumatisierte Unfallopfer oder Angehörige sind das eine. Doch was ist, wenn auch Polizisten, Helfer und Retter mit dem Schrecklichen nicht mehr klar kommen und sie selbst Hilfe benötigen? Es gebe „Leitlinien für die psychosoziale Notfallversorgung“, sagt Jürgen Krautwald vom Polizeipräsidium Schwaben Süd/West. Nach schweren Einsätzen werde Polizisten an- geboten, gemeinsam das Erlebte aufzuarbeiten. Wenn dies denn gewünscht ist – also auf freiwilliger Basis. Die Polizisten, die in der Silvesternacht auf der A7 im Einsatz waren, werden demnächst zu einer Nachbesprechung eingeladen. Dabei wird es um die Verarbeitung des Erlebten gehen. Krautwald weiß, dass längst nicht alle Polizisten nach schweren Einätzen Hilfe benötigen. Aber es gibt auch solche, die professionelle und längerfristige Unterstützung benötigen. Als große psychische Belastung gilt für Polizisten ein Schusswaffengebrauch im Einsatz.
Ob das psychosoziale Angebot bei der Polizei ausreichend ist? Krautwald will das nicht bewerten, sagt aber: „Das werden die Betroffenen unterschiedlich beurteilen.“Er selbst habe in seiner früheren beruflichen Tätigkeit öfters tödliche Unfälle erlebt und wisse, wie sich die Erinnerungen und schrecklichen Bilder ins Gedächtnis eingraben. Professionelle psychosoziale Hilfe habe er aber noch nie in Anspruch genommen, sagt Krautwald. Dass das Thema heute ernster genommen wird als früher, findet er aber gut.
Und was ist, wenn die psychosozialen Notfall-Betreuer selbst überlastet sind und mit dem Erlebten nicht mehr klar kommen? Walter Müller, der seit 50 Jahren bei der Wasserwacht im Deutschen Roten Kreuz ist, wirkt nachdenklich: „Man muss es sich mal von der Seele gequatscht haben“, sagt er. Und ergänzt: Und wenn man nur schweigend beieinander sitzt und eine Halbe Bier trinkt.“So werden in den nächsten Tagen die psychologischen Helfer, die in der Nacht zum Sonntag im Einsatz waren, ebenfalls zusammenkommen.
Die Geschichte der organisierten psychosozialen Krisenhilfe beginnt im Jahr 1994. Damals wurde in München ein Kind bei einem Unfall mit einer Straßenbahn getötet. Die Eltern blieben ohne fachliche Betreuung an der Unfallstelle zurück. Rettungsassistent Andreas MüllerCyran gründete daraufhin das weltweit erste Kriseninterventionsteam.