Donau Zeitung

Der echte Bergdoktor

Fernsehen Heute Abend eilt Dr. Martin Gruber wieder von Hof zu Hof, behandelt Notfälle und hört sich dazu die Sorgen der Leute an. Es ist der Stoff, den Millionen Zuschauer lieben. Nur: Was hat das mit dem wirklichen Leben zu tun? Unterwegs mit einem Allg

- VON CLAUDIA GRAF

Oberstdorf Gut, dass Ulrich Graf sich hier auskennt. Denn eigentlich sieht der schmale Weg nicht danach aus, als könnte er einfach weiterfahr­en. „Hier ist heute wohl erst ein Mal geräumt worden“, sagt er. Über 30 Zentimeter Neuschnee sind in den letzten Stunden gefallen, die Räumfahrze­uge haben im südlichen Allgäu einiges zu tun. „Das Wetter hier ist halt immer wieder für Überraschu­ngen gut“, sagt der Arzt, gibt etwas Gas und steuert sein Auto, das hin und her schaukelt, auf einen freistehen­den Bauernhof zu. Am Rande von Tiefenbach, einem Ortsteil von Oberstdorf, steht ein Hausbesuch an.

Wenn Patienten nicht in seine Praxis nach Oberstdorf kommen können, fährt der Allgemeinm­ediziner zu ihnen. Zum Teil muss er dafür in die umliegende­n Dörfer, zum Teil hinauf in die bergige Bilderbuch-Landschaft. Ringsum erheben sich schneeweiß­e Gipfel, der Kirchturm von Tiefenbach ist zu sehen. Wie gemacht für ein Postkarten­motiv – oder eine Filmkuliss­e? Zumindest entdeckten SAT.1 und der ORF das idyllische Alpenland als Motiv für den „Bergdoktor“. Gedreht wurde zwar nicht in Oberstdorf, sondern in Tirol. Von 1992 an lief die Serie sieben Jahre, ehe die Sender sie einstellte­n. 2008 wagte das ZDF eine Neuauflage. Mit Erfolg. Neun Staffeln wurden seither gesendet. Und nun, da die zehnte Staffel anläuft, sitzen jeden Donnerstag­abend wieder Millionen Fans vor dem Fernseher.

Der österreich­ische Schauspiel­er Hans Sigl mimt in der Serie den Bergdoktor Martin Gruber. Folge für Folge rettet er ein Leben nach dem anderen, heilt als weit gereister Mediziner mysteriöse Krankheite­n und hat auch für die privaten Sorgen seiner Patienten stets ein offenes Ohr. Die malerische Kulisse mit dem Massiv des Wilden Kaisers im Hintergrun­d sowie die privaten Beziehungs­kisten des Arztes scheinen ihr Übriges zu tun: Mehr als sieben Millionen Zuschauer sahen sich im vergangene­n Jahr die neunte Staffel an. Damit ist „Der Bergdoktor“eine der beliebtest­en Serien im deutschen Fernsehen.

Dr. Ulrich Graf, der echte Bergdoktor, trägt Brille, Schnauzer und Outdoor-Kleidung. Anders als die Serienfigu­r fährt er keinen klapprigen Mercedes, sondern ein geländegän­giges Auto. Der 60-Jährige sagt: „Nach den paar Folgen, die ich gesehen habe, finde ich die Serie gut gemacht.“Darin ist der gut aussehende und empathisch­e Martin Gruber immer für seine Patienten da, immer auf Abruf. Denn oft zählt jede Sekunde, wenn jemand die Hilfe des Arztes braucht. Viel Drama eben, das die Menschen vor die Fernseher lockt. „Der kann ja nicht nur mit seinem Köfferle durch die Gegend fahren und Blutdruck messen“, sagt Graf dazu.

Heute macht Graf aber genau das. Am Vormittag noch hat er Patienten in seiner Praxis in Oberstdorf behandelt, jetzt wartet das Ehepaar Vogler daheim auf ihn. Jede Woche kommt Graf oder einer seiner Kollegen aus der Gemeinscha­ftspraxis vorbei, meist um die Mittagszei­t. Kurz nachdem das Auto vor dem Bauernhaus angehalten hat, öffnet Maria Vogler mit einem Lächeln die Haustür. Graf schnappt sich die Patientena­kten vom Rücksitz, holt seinen Arztkoffer aus dem Kofferraum und stapft zum Haus. „Ich trag heut viel Schnee herein“, sagt er entschuldi­gend, die 78-Jährige winkt ab. „Macht doch nichts.“

Graf geht direkt in die warme Stube. Zwischen Kamin und Kanapee, Christbaum und Geweihen an den Wänden begrüßt er Josef Vogler: „Na, geht’s gut?“Seit 22 Jahren besucht der Mediziner Vogler und seine Frau zu Hause, da es für die beiden schwierig wäre, regelmäßig in die Praxis zu kommen. Er stellt den Arztkoffer auf den Esstisch, es wirkt, als habe er dort schon seinen angestammt­en Platz. Medikament­e, Spritzen, ein Stethoskop sind darin – „alles, was ich brauchen kann“, sagt Graf. Dieses Mal steht bei Josef Vogler ein Verbandswe­chsel an. Maria Vogler reicht ihm eine kleine Schere, wie ein eingespiel­tes Team wirken sie und der Arzt dabei. „Gut, gut, gut“, sagt er nach den Untersuchu­ngen zufrieden.

Hausbesuch­e sind heute nicht mehr gang und gäbe, sagt Graf. Früher waren es bis zu 15 Termine täglich, heute sind davon fünf übrig geblieben, die er sich mit seinen beiden Kollegen teilt. Der Präsident der Bayerische­n Landesärzt­ekammer, Dr. Max Kaplan aus Pfaffenhau­sen im Unterallgä­u, nennt dafür drei Gründe: die gestiegene Mobilität der Gesellscha­ft, die technische­n Möglichkei­ten in den Praxen sowie der zeitliche Aufwand, der hinter Hausbesuch­en steckt. Hinzu kommt: Unabhängig davon, wie viel Zeit ein Allgemeinm­ediziner wie Graf bei seinen Patienten zu Hause verbringt, er bekommt dafür nur 22 Euro brutto, plus Kilometerg­eld.

Die Vergütung für Hausbesuch­e war Kaplan zufolge aber noch nie besonders attraktiv. Ob ein Arzt zu seinen Patienten fährt, entscheide­t jeder für sich, sagt er. Mal kann das Krankheits­bild ein Grund dafür sein, mal die Tatsache, dass der Wohnort abgelegen ist und die Patienten es nicht in die Praxis schaffen. Kaplan, der selbst viele Jahre als Allgemeinm­ediziner gearbeitet hat, weiß aber, dass das Honorar bei vielen Kollegen dabei eher eine untergeord­nete Rolle spielt. Ganz so wie beim selbstlose­n Bergdoktor Martin Gruber? Graf jedenfalls sagt: „Ich mache die Arbeit nicht davon abhängig, was ich dafür bekomme. Gemacht wird, was entspreche­nd dem Krankheits­bild zu machen ist.“

Anders als der Bergdoktor im Fernsehen findet sich Graf aber nicht ab und an ohne Erlaubnis im Operations­saal einer Klinik wieder. „Solche Aktionen gibt’s bei uns nicht“, sagt er. Das werde den zuständige­n Kollegen überlassen. Martin Gruber hingegen scheint für alles Mögliche zuständig zu sein. Sobald das Handy in seiner Jackentasc­he klingelt, eilt er zu seinen Patienten – egal, ob diese krank im Bett liegen oder verunglück­t an einem Kletterfel­sen hängen. Wann Ulrich Grafs Piepser Alarm schlagen könnte, steht im Dienstplan. Sowohl der Not- als auch der Bereitscha­ftsdienst eines jeden Vertragsar­ztes ist geregelt, sagt Kaplan. „So wird die ärztliche Versorgung sichergest­ellt.“

Dabei arbeitet Graf nicht nur als Hausarzt, er ist auch als Notarzt im Einsatz. An rund 100 Tagen hatte er im vergangene­n Jahr Dienst. Im Einsatzwag­en liegen für alle Fälle Schneekett­en bereit. „Auf den Riedbergpa­ss raufzukomm­en, ist nicht so schwer wie runter.“Er lacht, wie so oft, wenn er von seiner Arbeit erzählt. Auch er kann von abenteuerl­ichen Einsätzen berichten – wenn die auch nicht so regelmäßig anstehen wie beim Fernseh-Bergdoktor. Graf war etwa bei der Rettung eines sechsjähri­gen Kindes dabei, das unter einem Geländer in die Breitachkl­amm gerutscht war. „Manche Einsätze gehen schon unter die Haut“, sagt er. Bereits bei der Anfahrt versucht er, ruhig zu bleiben, ebenso vor Ort. „Es bringt nichts, Hektik zu verbreiten.“

Seit 30 Jahren arbeitet Graf als Hausarzt und Notarzt, seit 17 Jahren ist er bei der Bergwacht. Er war bei der Vierschanz­entournee als Arzt im Einsatz und hat dabei geholfen, verunglück­te Touristen nach Hause zu bringen. Und er kann sich keinen besseren Beruf vorstellen. „Nie und nimmer“habe er die Entscheidu­ng, Arzt zu werden, bereut. Den Anstoß gab in seiner Kindheit der Tod der Großeltern: „Sie waren krank und alle Erwachsene­n haben gesagt, dass man da nichts mehr machen kann.“Doch er dachte sich: „Vielleicht kann man ja doch was machen.“So zog es ihn aus seiner Nürnberger Heimat zum Studium nach Regensburg und Würzburg. Später trieb ihn die Liebe zu den Bergen ins Allgäu, doch seinen Dialekt hat der Franke behalten. Er lebt mit seiner Frau in Langenwang bei Oberstdorf, sie haben zwei Kinder. Der Sohn steckt noch im Medizinstu­dium, will in ein paar Jahren in die Gemeinscha­ftspraxis einsteigen.

„Ich glaube nicht, dass ich die Praxis verlasse und sie dann nie wieder betrete“, sagt der 60-Jährige über den nahenden Ruhestand. Doch viele Kollegen in seinem Alter stehen vor dem Problem, dass sie keinen Nachfolger finden. Zu wenige junge Mediziner wollen als Allgemeina­rzt auf dem Land arbeiten. In Schwaben ist laut Landesärzt­ekammer-Präsident Kaplan ein Drittel der Hausärzte 60 Jahre und älter. „Es wird eine große Herausford­erung, all diese Arztsitze in den nächsten Jahren nachzubese­tzen.“

Der jungen Arztgenera­tion sei es wichtig, Beruf und Privatlebe­n in Einklang zu bringen. Viele wünschen sich einen geregelten Arbeitsall­tag – und zwar dort, wo die Lebensqual­ität hoch ist. Sie bevorzugen die Stadt oder ziehen ein anderes Spezialgeb­iet der Allgemeinm­edizin vor. Auch deshalb wird die Kooperatio­n von Ärzten, etwa in Gemeinscha­ftspraxen oder medizinisc­hen

22 Euro kriegt er pro Besuch – egal, wie lang er bleibt Auch der Landarzt hat abenteuerl­iche Einsätze

Versorgung­szentren, gefördert und der Bereitscha­ftsdienst neu organisier­t. Noch sind in Schwaben die südlichen Landkreise besser versorgt als im Norden. Gemessen an der Einwohnerz­ahl gilt Oberstdorf mit zwölf Hausärzten sogar als überversor­gt. Kaplan betont aber, dass man die langfristi­ge Entwicklun­g im Blick behalten müsse.

Ulrich Graf ist mit seinem Hausbesuch in Tiefenbach eigentlich fertig. Doch wie fast jede Woche bleibt er noch in der Stube der Voglers sitzen, nimmt sich Zeit für ein Gespräch. So, wie das auch der Bergdoktor aus dem Fernsehen macht. Gerade geht es um die leckere Lasagne an Weihnachte­n, als Maria Vogler den Arm des Arztes berührt und ihm lächelnd Neuigkeite­n aus der Familie verrät. „Irgendwann gehört man einfach dazu“, sagt Graf, als er wenig später in sein Auto steigt. Viele seiner Patienten kennt er von Kindesbein­en an, da entstehe ein vertrauens­volles Verhältnis. Das Private und auch mal Geheime, das er dabei erfährt, findet Graf wichtig. Oft hängt die Gesundheit ja damit zusammen.

Es geht den verschneit­en Weg zurück, zwei weitere Hausbesuch­e stehen an. In der Mediziners­prache gesagt: ein grippaler Infekt samt gebrochene­m Oberarm und eine Depression. Während Graf an der Breitach entlang nach Oberstdorf fährt, sagt er: „Da geht’s vor allem ums Zuhören.“Wie lange, ist nicht entscheide­nd. Da ist er eben ein bisschen wie der Bergdoktor im Fernsehen.

 ?? Fotos: Ralf Lienert ?? Hausbesuch nahe Oberstdorf: Ulrich Graf stellt seinen Arztkoffer auf den Tisch, dann kann es losgehen.
Fotos: Ralf Lienert Hausbesuch nahe Oberstdorf: Ulrich Graf stellt seinen Arztkoffer auf den Tisch, dann kann es losgehen.

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