Jedes Eck erzählt eine Geschichte
Kirchenserie Viele wissen nur vom höchsten Kirchturm der Welt – dabei birgt auch das Innere des Ulmer Münsters Besonderheiten
Ulm Das Ulmer Münster mit dem höchsten Kirchturm der Welt bildet nach dem Kölner Dom das zweitgrößte Kirchengebäude Deutschlands. Als katholische Liebfrauenkirche erbaut, wurde sie mit der Reformation 1531 von der evangelisch gewordenen Münstergemeinde weitergeführt. Mehr als 50 Privataltäre wurden entfernt. Doch 150 Marienbilder sind noch heute im und am Münster erhalten.
Am 30. Juni 1377 war Ulms Altbürgermeister Lutz Krafft in die Baugrube hinabgestiegen, um den Grundstein mit 100 Goldstücken zu bedecken. So machte er deutlich, dass hier eine von der Stadt und ihren Bewohnern geplante Bürgerkirche entstehen sollte. Ulm war reich geworden mit Herstellung und Handel des Barchents, ein Mischgewebe aus Baumwolle und Leinen. Dieser Reichtum sollte zur Schau gestellt werden. Sichtbar wird das städtische Selbstbewusstsein auch im Münster. Der dritte Pfeiler auf der Südseite des Kirchenschiffs – vom Chor aus gezählt – trägt das Dokument der Grundsteinlegung: Krafft und seine Ehefrau Elisabeth, kein Bischof oder gar Kardinal, setzen dem Baumeister Heinrich Parler das Münstermodell auf die Schultern und übertragen ihm symbolisch die Verantwortung für den Bau.
Höhe und Weite des spätgotischen Bauwerks überwältigen den Eintretenden. Dazu das volle Licht, das durch die hohen Fenster hereinbricht. Der Blick fällt auf das Weltgericht über dem Chorbogen, das als größtes Fresko nördlich der Alpen gilt. Im oberen Teil zeigt es den sitzenden Christus mit Maria und Johannes, mit Aposteln, Patriarchen und Heiligen. Unter ihnen in gewaltigem Durcheinander die verängstigte Masse Menschen, die den Jüngsten Tag erwartet. Auf der Säule rechts steht seit dem Münsterjubiläum von 1977 das Original des Schmerzensmanns vom Westportal.
Den kostbarsten Schatz bildet das gotische Chorgestühl – zwischen 1469 und 1474 vom Söflinger Schreinermeister Jörg Syrlin gebaut, mit fast lebensgroßen Büsten aus der Hand des Bildschnitzers Michel Erhart. Drei in Holz gearbeitete Bilderreihen an den Rückwänden der 89 Sitze für die Münsterpriester und den Rat der Stadt zeigen Gestalten des Alten Testaments sowie Apostel, Märtyrer und Heilige. Der behauptete Bildersturm nach der Reformation hat nicht wirklich stattgefunden. Das überflüssig gewordene, in einer protestantischen Kirche nicht benötigte Chorgestühl blieb unversehrt. Auch Kunstwerke wurden nicht zerschlagen, sondern nach Aufforderung durch den Rat der Stadt von ihren Besitzern abgeholt, andere verkauft. Sogar der Dreisitz für bischöfliche Besucher blieb erhalten, ganz zu schweigen von der Menge der Glasfenster aus dem 14. und 15. Jahrhundert im Chor und der benachbarten Bessererkapelle.
Das mächtige Gewölbe der fünfschiffigen Basilika ruht auf 36 Pfeilern und Säulen. Die Figuren auf ihren Konsolen sind streng sortiert nach Aposteln und Propheten im Mittelschiff, weltlichen Herrschern wie Karl der Große, Gustav Adolf von Schweden und Ulms Bürgermeister Bernhard Besserer im nördlichen, Martin Luther, Paul Gerhardt, Münsterpfarrer Konrad Dieterich im südlichen Seitenschiff.
Fünf Portale führen ins Münster. Keins gleicht dem anderen, schon gar nicht die Bogenfelder über den Toren mit ihrer Fülle von mehr als 300 Skulpturen zur Kirchengeschichte. Die Figurenwelt am Westportal prägt der Schmerzensmann am Mittelpfeiler. Diesen gepeinigten Christus hat der in Reichenhofen im Allgäu geborene, in Ulm zu Ruhm gelangte Künstler Hans Multscher 1429 als demütigen Sieger in Stein gehauen. Die Reliefs zeigen die Schöpfungsgeschichte mit Sündenfall, Vertreibung aus dem Paradies, Kains Mord an Abel. An den beiden Portalpfeilern stehen die Münsterpatrone Antonius, Johannes der Täufer, Maria mit dem Kind und Martin.
Auf der Münstersüdseite sticht das Große Marienportal hervor. Im oberen Teil schildern drei Bildstreifen das Leben der Mutter Jesu. Darunter im rechten Feld die Geburt Jesu im Stall, in der Mitte der Zug der Könige nach Bethlehem und links die Anbetung des Neugeborenen im Stall. In dem auf das Marienportal folgenden Gerichtsportal ist zwischen Engeln mit Maria und Johannes dem Täufer Jesus als Weltenrichter mit dem Schwert dargestellt. Unter dieser Gruppe sind die Engel versammelt, die zum Gericht blasen, dazu Auferstehende, die zum Himmelstor geführt sowie Verdammte, die gefesselt in den Höllenschlund getrieben werden. Dieser Eingang heißt auch Brauttor, weil dort Brautleute ihren Einzug ins Münster halten. Es öffnet zur Brautgasse. In der rechten Seitenwand ist ein weiteres Relief zur Grundsteinlegung eingelassen. Ausgangsmaterial war ein jüdischer Grabstein, wie auf der Rückseite des im Ulmer Museum bewahrten Originals zu sehen ist.
Das „Passionsportal“auf der Nordseite bildet im unteren Teil den Beginn der Leidensgeschichte ab mit Gefangennahme, Verurteilung und Dornenkrönung. Darüber liegt der Weg nach Golgatha mit Kreuzigung und Auferstehung. Zwischen alter und neuer Münsterbauhütte liegt das Kleine Marienportal. Oben ist die Geburt Jesu im Stall von Bethlehem zu sehen, unten die drei Könige mit Maria. Dies Relief ist das älteste aller Bilderfelder über den Münsterportalen. Laut Inschrift stammt es von 1356, wurde also 21 Jahre vor Beginn des Münsterbaus in die damalige Ulmer Pfarrkirche eingesetzt. Die lag vor den Stadtmauern am heutigen „Alten Friedhof“und wurde mit dem Münsterbau abgetragen.
Fünf Portale führen ins Münster – keines gleicht dem anderen.