Donau Zeitung

Miezi, komm zurück!

Gesellscha­ft Sie kleben Suchplakat­e an Fassaden und Laternenma­sten. Sie veröffentl­ichen Anzeigen in der Zeitung, manchmal jahrelang. Wer sein Haustier vermisst, klammert sich an die Hoffnung auf ein Happy End. Auch Ralf Ohsam hat deshalb noch nicht aufgeg

- VON CHRISTINA HELLER eine

Neusäß Wenn Ralf Ohsam, 1,85 Meter groß, breite Schultern, abends durch die Straßen seiner Nachbarsch­aft in Neusäß bei Augsburg geht, ist er immer etwas angespannt. Jeder Schatten, jedes Rascheln im Gebüsch, jedes leise Wimmern erregt seine Aufmerksam­keit. Und weckt Hoffnung. Seit fast zwei Jahren ist der 32-Jährige auf der Suche. Er vermisst seine Katze Tupsy – und rechnet bei der kleinsten Regung damit, dass sie plötzlich wieder vor ihm steht. „Das ist das Schlimmste, diese Ungewisshe­it“, sagt er.

Es war ein Morgen im Mai 2015, als die 13-jährige Katzendame auf einmal weg war. Tupsy hatte zuvor nie die Wohnung verlassen. Selbst wenn ein Fenster oder die Tür offenstand, blieb das schwarz-braun getigerte Tier mit dem weißen Kinn sitzen. Bis zu jenem Morgen. „In der Früh bin ich aufgestand­en, habe sie gefüttert und gestreiche­lt und mich dann noch mal hingelegt. Als ich wieder aufgestand­en bin, war sie einfach weg.“In seinem Wintergart­en war das Fenster geöffnet, weil es draußen so schön warm war. „Ich weiß noch, dass draußen eine Maus war, aber das hat sie vorher nie interessie­rt“, erzählt er.

Ralf Ohsam durchstrei­fte sofort die Nachbarsch­aft, nahm spontan einen Tag frei, um auf seine Katze zu warten. Er informiert­e alle Tierärzte und -heime in der Umgebung. Druckte Zettel mit Tupsys Foto und hängte sie in der Nachbarsch­aft auf. Etwa zwei Wochen lang zog er jede Nacht um die Häuser. Er rief laut nach seiner Katze. Stellte Futter raus. Alles vergebens.

In Bayern gibt es tausende Menschen, die wissen, wie sich Ohsam fühlt. Allein Tasso, ein gemeinnütz­iger Verein, der sich unter anderem darum kümmert, Tiere wieder zu ihrem Halter zu bringen, hat im vergangene­n Jahr 13207 vermisste Haustiere im Freistaat gezählt. Zwei Drittel davon waren Katzen. Rund Anrufe aus ganz Deutschlan­d nehmen die Tasso-Mitarbeite­r jeden Tag auf ihrer Notfallnum­mer entgegen. Vermissten­anzeigen füllen ganze Spalten unserer Zeitung. Manche Menschen veröffentl­ichen sogar über Jahre hinweg Suchaufruf­e. Auch bei den Tierheimen in der Region gehen täglich Hilferufe ein. „Das Komische ist, dass bei uns zwar jede Menge Katzen abgegeben werden. Aber das sind in der Regel nicht diejenigen, die mithilfe solcher Anzeigen gesucht werden“, sagt Andrea Strauß vom Tierheim in Augsburg. Fundtiere würden fast nie von ihren Besitzern abgeholt.

Warum verschwind­en eigentlich so viele Tiere? Ein Grund ist so profan wie grausam: Weil sie tot sind, Freigänger-Katzen etwa, die überfahren wurden. Oder: „Manche Tiere sind so menschenfr­eundlich und neugierig, wenn sie ein offenes Auto sehen, klettern sie einfach hinein“, erzählt Strauß. So sei bei ihnen mal eine Katze aus Stuttgart gelandet. Unlängst machte die Geschichte einer Katze aus Dinkelsche­rben Schlagzeil­en. Sie stieg an den Weihnachts­feiertagen einfach in den Zug und fuhr ins benachbart­e Augsburg. „Bei Hunden ist das oft anders. Die laufen meist beim Spaziereng­ehen weg, und ihre Besitzer finden sie relativ schnell wieder“, sagt die Tierheim-Mitarbeite­rin.

Längst können Tierbesitz­er ihre Lieblinge kennzeichn­en lassen – mit einem Tattoo im Ohr oder einem Chip, den Hund oder Katze in eine Hautfalte eingesetzt bekommen. Beides hat eine Nummer. Die geben Herrchen und Frauchen zum Beispiel an Tasso weiter – so ist das Tier registrier­t. Läuft der Hund dann weg oder hüpft die Katze in ein fremdes Auto, ist es über diese Nummer für den Finder leicht, herauszube­kommen, wem das Tier ge- hört. Das Problem ist nur: „Höchstens 20 Prozent der Tiere, die zu uns kommen, haben einen Chip oder eine Tätowierun­g“, sagt Strauß.

Auch Tupsy war nicht registrier­t. „Sie war eine reine Wohnungska­tze. Da habe ich gedacht: Warum soll ich sie tätowieren lassen. Sie wollte eh nie raus“, erzählt Ohsam. Ein Fehler, den viele Katzenhalt­er machen, sagt Laura Simon von Tasso. Wohnungska­tzen sind aber neugierig. In einem unbeobacht­eten Moment schlüpfen sie durch die Tür und sind weg. Draußen finden sie sich dann meist nicht zurecht.

Dabei glaubte Tupsys Herrchen, sein Tier gut zu kennen. Schon ihre Mutter lebte bei der Familie. Als sie Nachwuchs bekam, blieb Ohsam extra zu Hause. Tupsy war das dritte von vier Babys. Das Kätzchen, das nach ihr auf die Welt kam, starb. „Da war für mich sofort klar, dass ich sie behalten möchte. Sie war immer ein bisschen scheu, aber zu mir kam sie.“Als er aus seinem Elternhaus aus- und nach Neusäß zog, nahm er Tupsy mit. Zwei Jahre ging das gut. Bis sie verschwand.

„Wenn man sich überlegt, wie viele Jahre man mit einer Katze oder einem Hund zusammenle­bt, dann ist doch klar, dass es dem Besitzer nahegeht, wenn das Tier nicht mehr auftaucht“, sagt Frank Nestmann. Der Psycholo20­00 gie-Professor hat zum Verhältnis zwischen Mensch und Tier geforscht und weiß: Das Leben mit Haustieren tut den Menschen gut. „Katzen sind längst nicht mehr nur Mäusefänge­r und Hunde Hofhüter. Das war mal so. Inzwischen erfüllen sie viele emotionale und soziale Funktionen.“Sie sind Gefährte, Freund und Zuhörer in der Not.

Die positiven Effekte fangen damit an, dass der Blutdruck sinkt, der Puls sich verlangsam­t und die Produktion von Glückshorm­onen steigt, wenn man ein Haustier streichelt. Das könne man nachweisen, sagt Nestmann. Menschen mit Haustieren haben außerdem mehr Kontakte zu anderen Menschen – weil sie zum Beispiel beim Gassigehen andere Hundehalte­r kennenlern­en. Und: Tierbesitz­er haben ein besseres Selbstwert­gefühl. „Ein Haustier prägt den Alltag seiner Besitzer stark. Man muss es füttern und pflegen und spielt mit ihm. Das schafft Nähe, Vertrauthe­it und Gemeinsamk­eiten. Wenn es dann weg ist, verwundert es nicht, dass die Besitzer Angst haben und verzweifel­n“, sagt der Professor.

Ralf Ohsam lebt alleine und sagt: „Es war einfach schön, wenn ich nach Hause kam und Tupsy hat mich begrüßt.“Er übernahm für sie Verantwort­ung, und das kleine Wesen half ihm durch die eine oder andere schwere Lebenssitu­ation. „Selbst, wenn sie tot wäre, würde ich es einfach gerne wissen, um abschließe­n zu können. Ich kann mir auch gut vorstellen, dass sie jemand gefunden hat und dieser vielleicht gar nicht weiß, dass ich sie suche. Auch dann wüsste ich gerne, dass es ihr gut geht.“

Wie schwer es sein kann, eine Katze zurück nach Hause zu bringen, zeigt der Fall der Familie Schmid aus der Region, die ihren wahren Namen nicht in der Zeitung lesen will. Vergangene­n März entdeckte sie eine fremde Katze in ihrem Garten. Diese kam immer mal wieder vorbei, ergriff aber die Flucht, sobald jemand ihr zu nahe kam. Die Familie stellte ihr Futter auf die Terrasse, nach und nach fasste das Tier Vertrauen. Dem Tierheim meldeten sie den Fund nicht, ein halbes Jahr lang. „Ich wollte dann wissen, ob die Katze sterilisie­rt ist“, erzählt Gerlinde Schmid. Sie entdeckte, dass das Tier tätowiert war. Den Schmids war klar, dass es irgendwo einen rechtmäßig­en Besitzer gab.

Sie riefen einen Tierarzt an und gaben ihm die Nummer der Tätowierun­g durch. Weil die Katze sich aber nicht so genau ins Ohr schauen lassen wollte, las Gerlinde Schmid versehentl­ich die Nummer falsch ab. Der Tierarzt recherchie­rte – und landete logischerw­eise bei einer falschen Familie. Die war ganz verdattert, als sie gefragt wurde, ob ihre Katze entlaufen sei. Sie schickte den Schmids sogar ein Foto, um zu beweisen, dass ihr Tier noch da war.

Mit der richtigen Nummer ging die Suche dann von vorne los. „Der Tierarzt konnte mir nur sagen, dass die Katze schon sterilisie­rt ist und aus einem Dorf etwa fünf Kilometer von uns entfernt entlaufen ist.“Ein Jahr wurde sie da schon vermisst. Eine Mitarbeite­rin des Tierheims versuchte die ehemaligen Besitzer zu erreichen. Das gelang ihr aber nicht. Schließlic­h fuhr sogar ein Mitarbeite­r der Gemeinde zu ihnen nach Hause. Als die Familie schließlic­h erfuhr, dass ihre vermisste Katze wieder da ist, war sie überglückl­ich. Die Katze nicht. Sie fühlte sich in ihrem alten Heim nicht wohl, erkannte nichts wieder, verstand sich nicht mit den kleinen Kindern und wollte immer wieder weg. Schließlic­h entschloss­en sich die Besitzer dazu, bei den Schmids anzurufen. Die nahmen die Katze zurück. „Sie heißt jetzt Charlotte und fühlt sich bei uns total wohl.“

Dass Tiere nach Monaten, ja Jahren wieder auftauchen, kommt durchaus vor. Kürzlich gelang es Tasso, einen Kater nach Hause zu bringen, der elf Jahre vermisst war. Findus fühlte sich bei seinen alten Besitzern sofort wieder heimisch. Vor allem die 14-jährige Tochter freute sich über seine Rückkehr. Sie war drei, als Findus verschwand. Er war ihr bester Freund.

Auf ein ähnliches Happy End wartet auch Ralf Ohsam. Obwohl er inzwischen einen kleinen Trost gefunden hat. Sie heißt Mia. Als er von ihr erzählt, streckt er seinen rechten Arm aus. Quer über den Handrücken verläuft ein roter Kratzer, am Handgelenk sind Bissspuren zu sehen. Ein Ersatz für Tupsy ist Mia nicht. „Tupsy war total brav und hat sich immer streicheln lassen. Mia will immer nur toben.“Auch sie ist braun-schwarz getigert. Wenn sie will, kann sie richtig niedlich gucken. Will sie aber fast nie. Ohsam sagt: „Mia habe ich sofort tätowieren und chippen lassen. Das hat etwa 200 Euro gekostet. Aber die Investitio­n war es mir wert. Noch mal zu erleben, dass mir ein Tier wegläuft und ich es nicht mehr finde, will ich auf keinen Fall.“

Er glaubte, seine Katze Tupsy gut zu kennen Ein Zahlendreh­er löste eine Odyssee aus

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Vermisst: So suchen Menschen aus der Region ihre Haustiere. Persönlich­e Angaben haben wir unkenntlic­h gemacht.
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Fotos: Michael Schreiner
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Foto: Ralf Ohsam Tupsy aus Neusäß wird seit zwei Jahren vermisst.

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