Was Putin aus dem Sturz des Zaren gelernt hat
Zeitgeschichte Vor 100 Jahren verjagten die Russen ihren Herrscher. Die dramatischen Tage verfolgen das Land bis heute. Nicht umsonst versucht der Präsident, jede Art von Aufruhr im Keim zu ersticken
St. Petersburg „Nieder mit dem Zaren!“– Solche Schmähungen stehen im Februar 1917 selbst am Generalstabsgebäude wenige Schritte vom Winterpalast des russischen Herrschers entfernt. Vor 100 Jahren brodelt es in der Hauptstadt, die damals Petrograd hieß. Es fehlt an Brot, weil die riesige Armee im Ersten Weltkrieg versorgt werden muss. Im dritten Kriegsjahr sind die Menschen müde. Streikende Arbeiter ziehen ins Zentrum der Stadt. Zar Nikolaus II. schickt Polizei und Armee gegen die Protestierer, es fließt Blut. Doch nach wenigen Tagen wendet sich das Blatt, die Soldaten verbrüdern sich mit den Streikenden. Der Druck auf den Zaren wächst. Am 15. März 1917 (heutiger Zeitrechnung) dankt Nikolaus ab, auch sein Bruder Michail entsagt dem Thron – 1000 Jahre Monarchie in Russland, 300 Jahre Herrschaft der Romanow-Dynastie sind zu Ende. Für das Land ist die Februarrevolution Auftakt zu einem dramatischen Jahr voller Erschütterungen, die schließlich zur Machtübernahme der kommunistischen Bolschewiki in der Oktoberrevolution führt.
Für das heutige Russland ist das Epochenjahr Teil einer Vergangenheit, die nicht vergeht. „Das Jahr 1917 will einfach nicht Geschichte werden, es wirkt auf die heutige Politik“, schreibt der Historiker Konstantin Salesski in der Zeitung Iswestija. Präsident Wladimir Putin regiert sein Land autoritär, um jede Art von Erschütterung im Keim zu ersticken. Salesski teilt diese konservative Sicht. Er fragt, was denn den Menschen damals versprochen worden sei: „Frieden, den Arbeitern die Fabriken, den Bauern Land, den Räten die Macht, den Hungrigen Brot.“Nichts davon sei erfüllt worden. „Jede Revolution ist ein großes Verbrechen, eine große Lüge, eine große Katastrophe“, folgert er.
Die russische Führung hat das Revolutionsgedenken in diesem Jahr unter das Leitmotiv der nationalen Versöhnung gestellt: Es sollen sich die Weißen mit den Roten versöhnen, die Monarchisten und Liberalen mit den Kommunisten. Das Volk müsse einig sein „unabhängig davon, auf welcher Seite der Barrikade unsere Vorväter gestanden haben“, sagt Putin.
Doch die Einigkeit hat ihre Grenzen: Kritische russische Stimmen sehen beunruhigende Parallelen zwischen dem späten Zarenreich und Putins System. Da seien „die Privilegien der einen und die Rechtlosigkeit der anderen, die Taubheit und Korruptheit der Beamten, das Unvermögen der Staatsmacht, mit dem Volk zu kommunizieren“, schreibt der Politologe Nikolai Mironow. Eine revolutionäre Stimmung ist in Russland – trotz anhaltender Wirtschaftskrise – nicht auszumachen. Doch wie vor 100 Jahren hängt das Land von einem einzigen Mann ab. Zar Nikolaus II. war damals nicht in der Lage, sein Imperium zu retten. Der weiche, nachgiebige Zar konnte nicht mehr so autoritär herrschen wie sein Vater Alexander III. Er war aber auch nicht entschieden genug, sein Reich zu reformieren. Seine deutsche Frau Alexandra und er hingen dem Gefühl einer mythischen Einheit von Zar und russischem Volk an, in Wirklichkeit lebten sie weit von ihm entfernt. Auf den Sturz des Zaren folgten neue Freiheiten – und großes Chaos. Eine provisorische Regierung unter wechselnden Ministerpräsidenten konkurrierte mit dem Petrograder Arbeiter- und Soldatenrat um die Macht. Russland führte weiter Krieg, doch an der Front desertierten die Soldaten. Finnland, Polen und das Baltikum spalteten sich ab.
Die Bolschewiki, die radikalste linke Partei in Russland, spielten in der Februarrevolution kaum eine Rolle. Doch danach drang ihr Anführer Lenin auf eine Machtübernahme. 1918 ermordeten die Kommunisten den gefangenen Zaren und seine Familie. Im Bürgerkrieg bis 1922 festigten sie ihre Macht. Die Sowjetunion entstand, die in Vielem den Imperialismus des Zarenreichs fortsetzte. Auch das moderne Russland habe mit dem Erbe des letzten Zaren zu kämpfen, sagt der deutsche Wissenschaftler Jan Claas Behrends. „Autokratie, Despotismus, soziale Ungerechtigkeit und imperiale Überdehnung waren die Probleme, die zur russischen Revolution vor 100 Jahren führten“, schreibt der Historiker, der in Potsdam und Berlin lehrt. Ein Jahrhundert später sei keines dieser Probleme gelöst.
Friedemann Kohler, dpa