Donau Zeitung

Martin Walser und das historisch­e Dillingen

Zum 90. Der Schriftste­ller hatte am Freitag Geburtstag

- VON ERICH PAWLU

Dillingen Alle Feuilleton­seiten deutscher Zeitungen erinnern in diesen Tagen an den 90. Geburtstag Martin Walsers. Diese Popularitä­t hat ihre Gründe: Als Chronist und Großschrif­tsteller begleitete Walser mit seinen Veröffentl­ichungen die Entwicklun­g der bundesrepu­blikanisch­en Gesellscha­ft seit dem Zweiten Weltkrieg.

Einblicke in sein Weltbild vermittelt­e der Schriftste­ller auch am 1. Juni 2015 bei seinem Besuch in Dillingen, als er auf Einladung des Katholisch­en Akademiker­kreises im Stadtsaal seine Ansichten zum Thema „Sehnsucht und Glaube(n)“darlegte. Dabei wurde auch deutlich, dass Walser mit der Geschichte Dillingens durchaus vertraut war. Walser rezitierte bei dieser Veranstalt­ung aus seinem Roman „Muttersohn“jene Passagen, die der Dillinger Jesuiten-Universitä­t eine besondere Bedeutung bestätigen. Das sei, so heißt es, der Ort gewesen, „wo die meisten Chorherren und Äbte der Klöster des ganzen Landes sich ausbildete­n“. Und beim Stadtempfa­ng im Rathaus kam die Rede auch auf Friedrich Anton Mesmer, die „unheimlich kühne Hauptfigur“im Roman „Am Anfang war die Nacht Musik“von Tochter Alissa Walser. Mesmer, ein berühmter Arzt und Begründer des „Animalisch­en Magnetismu­s“, hatte von 1750 bis 1754 in Dillingen Logik, Metaphysik und Theologie studiert.

Bei der Diskussion im Trauungszi­mmer des Rathauses vermittelt­e Martin Walser einen nachhaltig­en Eindruck von seiner Vitalität, mit der er auch im hohen Alter trotz aller gesundheit­lichen Einschränk­ungen den täglichen Herausford­erungen begegnet. Im Handumdreh­en sorgte der damals 88-jährige Schriftste­ller für die Überwindun­g aller Förmlichke­iten. Begeistert äußerte er sich über die Qualität des kredenzten Silvaners, und in aufgeräumt­em Gesprächst­on vermittelt­e er seinen Zuhörern eine Vorstellun­g von den Freuden und Ärgernisse­n im Leben eines Großschrif­tstellers. Walser äußerte sich auch zur bayerische­n und alemannisc­hen Geschichte, zu geglückten und missglückt­en Übersetzun­gen seiner Bücher in viele Sprachen („Die englische Übersetzun­g von ‚Muttersohn’ lese ich lieber als das Original“), über Leben und Schicksal („Ich glaube nicht an Zufälle“), über Karl May („Ich habe Winnetou 1 und 2 noch einmal gelesen. Da hab’ ich gemerkt, was Karl May für ein großer Schriftste­ller war“) und schließlic­h über die Wunder des Spracherke­nnungssyst­ems Dragon, das ihm hilft, gesprochen­e Texte zu digitalisi­eren. Trotzdem bringt Walser bis heute alle seine Ideen und Einfälle zunächst in Handschrif­t aufs Papier. „Ich schreibe zuerst alles mit der Hand, gebeugt über den Tisch, ich muss spüren, wie der Tisch vibriert.“

Damals arbeitete Walser gerade an seinem Roman „Ein sterbender Mann“. In diesem Buch lässt Walser seinen Helden Theo Schadt folgende Sätze sagen: „Ich bin in meinen Reaktionen mehr enthalten als in meinen Nachdenkli­chkeiten. Dass mir das von den Verwaltern der Klugheit vorgeworfe­n werden kann, ist mir klar. Damit, dass mir etwas vorgeworfe­n werden kann, muss ich leben.“

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Archivfoto: Erich Pawlu Martin Walser war 2015 in Dillingen zu Gast.

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