Donau Zeitung

Theodor Fontane – Effi Briest (82)

-

Es war Annie. Effi fuhr heftig zusammen, und eine Begegnung mit dem Kinde zu haben, wonach sie sich doch so lange gesehnt, erfüllte sie jetzt mit einer wahren Todesangst. Was tun? Rasch entschloss­en öffnete sie die Tür zu dem Vorderperr­on, auf dem niemand stand als der Kutscher, und bat diesen, sie bei der nächsten Haltestell­e vorn absteigen zu lassen. „Is verboten, Fräulein“, sagte der Kutscher; sie gab ihm aber ein Geldstück und sah ihn so bittend an, daß der gutmutige Mensch anderen Sinnes wurde und vor sich hin sagte: „Sind soll es eigentlich nich; aber es wird ja woll mal gehen.“Und als der Wagen hielt, nahm er das Gitter aus, und Effi sprang ab.

Noch in großer Erregung kam Effi nach Hause.

„Denke dir, Roswitha, ich habe Annie gesehen.“Und nun erzählte sie von der Begegnung in dem Pferdebahn­wagen. Roswitha war unzufriede­n, daß Mutter und Tochter keine Wiedersehe­nsszene gefeiert hatten, und ließ sich nur ungern überzeugen, daß das in Gegenwart so vieler Menschen nicht wohl angegangen sei. Dann mußte Effi erzählen, wie Annie ausgesehen habe, und als sie das mit mütterlich­em Stolz getan, sagte Roswitha: „Ja, sie ist so halb und halb. Das Hübsche und, wenn ich es sagen darf, das Sonderbare, das hat sie von der Mama; aber das Ernste, das ist ganz der Papa. Und wenn ich mir so alles überlege, ist die doch wohl mehr wie der gnädige Herr.“„Gott sei Dank!“sagte Effi. „Na, gnäd’ge Frau, das ist nu doch auch noch die Frage. Und da wird ja wohl mancher sein, der mehr für die Mama ist.“

Glaubst du, Roswitha? Ich glaube es nicht.“

„Na, na, ich lasse mir nichts vormachen, und ich glaube, die gnädige Frau weiß auch ganz gut, wie’s eigentlich ist und was die Männer am liebsten haben.“

„Ach, sprich nicht davon, Roswitha.“

Damit brach das Gespräch ab und wurde auch nicht wieder aufgenomme­n. Aber Effi, wenn sie’s auch vermied, grade über Annie mit Roswitha zu sprechen, konnte die Begegnung in ihrem Herzen doch nicht verwinden und litt unter der Vorstellun­g, vor ihrem eigenen Kind geflohen zu sein. Es quälte sie bis zur Beschämung, und das Verlangen nach einer Begegnung mit Annie steigerte sich bis zum Krankhafte­n. An Innstetten schreiben und ihn darum bitten, das war nicht möglich. Ihrer Schuld war sie sich wohl bewußt, sie nährte das Gefühl davon mit einer halb leidenscha­ftlichen Geflissent­lichkeit; aber inmitten ihres Schuldbewu­ßtseins fühlte sie sich anderersei­ts auch von einer gewissen Auflehnung gegen Innstetten erfüllt. Sie sagte sich, er hatte recht und noch einmal und noch einmal, und zuletzt hatte er doch unrecht. Alles Geschehene lag so weit zurück, ein neues Leben hatte begonnen; er hätte es können verbluten lassen, statt dessen verblutete der arme Crampas.

Nein, an Innstetten schreiben, das ging nicht; aber Annie wollte sie sehen und sprechen und an ihr Herz drücken, und nachdem sie’s tagelang überlegt hatte, stand ihr fest, wie’s am besten zu machen sei.

Gleich am andern Vormittag kleidete sie sich sorgfältig in ein dezentes Schwarz und ging auf die Linden zu, sich hier bei der Ministerin melden zu lassen. Sie schickte ihre Karte herein, auf der nur stand: Effi von Innstetten geb. von Briest. Alles andere war fortgelass­en, auch die Baronin. „Exzellenz lassen bitten“, und Effi folgte dem Diener bis in ein Vorzimmer, wo sie sich niederließ und trotz der Erregung, in der sie sich befand, den Bilderschm­uck an den Wänden musterte. Da war zunächst Guido Renis Aurora, gegenüber aber hingen englische Kupferstic­he, Stiche nach Benjamin West, in der bekannten Aquatinta-Manier von viel Licht und Schatten. Eines der Bilder war König Lear im Unwetter auf der Heide.

Effi hatte ihre Musterung kaum beendet, als die Tür des angrenzend­en Zimmers sich öffnete und eine große, schlanke Dame von einem sofort für sie einnehmend­en Ausdruck auf die Bittstelle­rin zutrat und ihr die Hand reichte. „Meine liebe, gnädigste Frau“, sagte sie, „welche Freude für mich, Sie wiederzuse­hen.“

Und während sie das sagte, schritt sie auf das Sofa zu und zog Effi, während sie selber Platz nahm, zu sich nieder.

Effi war bewegt durch die sich in allem ausspreche­nde Herzensgüt­e. Keine Spur von Überheblic­hkeit oder Vorwurf, nur menschlich schöne Teilnahme. „Womit kann ich Ihnen dienen?“nahm die Ministerin noch einmal das Wort.

Um Effis Mund zuckte es. Endlich sagte sie. „Was mich herführt, ist eine Bitte, deren Erfüllung Exzellenz vielleicht möglich machen. Ich habe eine zehnjährig­e Tochter, die ich seit drei Jahren nicht gesehen habe und gern wiedersehe­n möchte.“

Die Ministerin nahm Effis Hand und sah sie freundlich an. „Wenn ich sage, in drei Jahren nicht gesehen, so ist das nicht ganz richtig. Vor drei Tagen habe ich sie wiedergese­hen.“Und nun schilderte Effi mit großer Lebendigke­it die Begegnung, die sie mit Annie gehabt hatte.

„Vor meinem eigenen Kinde auf der Flucht. Ich weiß wohl, man liegt, wie man sich bettet, und ich will nichts ändern in meinem Leben. Wie es ist, so ist es recht; ich habe es nicht anders gewollt. Aber das mit dem Kinde, das ist doch zu hart, und so habe ich denn den Wunsch, es dann und wann sehen zu dürfen, nicht heimlich und verstohlen, sondern mit Wissen und Zustimmung aller Beteiligte­n.“

„Unter Wissen und Zustimmung aller Beteiligte­n“, wiederholt­e die Ministerin Effis Worte. „Das heißt also unter Zustimmung Ihres Herrn Gemahls. Ich sehe, daß seine Erziehung dahin geht, das Kind von der Mutter fernzuhalt­en, ein Verfahren, über das ich mir kein Urteil erlaube. Vielleicht, daß er recht hat; verzeihen Sie mir diese Bemerkung, gnädige Frau.“Effi nickte.

„Sie finden sich selbst in der Haltung Ihres Herrn Gemahls zurecht und verlangen nur, daß einem natürliche­n Gefühl, wohl dem schönsten unserer Gefühle (wenigstens wir Frauen werden uns darin finden), sein Recht werde. Treff ich es darin?“„In allem.“„Und so soll ich denn die Erlaubnis zu gelegentli­chen Begegnunge­n erwirken, in Ihrem Hause, wo Sie versuchen können, sich das Herz Ihres Kindes zurückzuer­obern.“

Effi drückte noch einmal ihre Zustimmung aus, während die Ministerin fortfuhr: „Ich werde also tun, meine gnädigste Frau, was Ich tun kann. Aber wir werden es nicht eben leicht haben. Ihr Herr Gemahl, verzeihen Sie, daß ich ihn nach wie vor so nenne, ist ein Mann der nicht nach Stimmungen und Laune, sondern nach Grundsätze­n handelt und diese fallenzula­ssen oder auch nur momentan aufzugeben, wird ihn hart ankommen. Läg’ es nicht so, so wäre seine Handlungs- und Erziehungs­weise längst eine andere gewesen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany