Von Kakerlaken im Zug und einer Hilfsorganisation
Serie Anna Theresa Schmid reist mit 18 Jahren zum ersten Mal nach Indien. Wie aus dem anfänglichen Kulturschock ein Hilfsprojekt entstehen konnte, erzählt sie in Höchstädt
Höchstädt Schlafende Reisende liegen auf dem Boden im Zug. Zwischen ihnen laufen Kakerlaken und andere Insekten durch. Niemand scheint sich daran zu stören. Das ist der erste Eindruck, der sich Anna Theresa Schmid 2012 von Indien bot. Wie aus diesem Kulturschock eine eigene Hilfsorganisation entstehen konnte, berichtete sie im Schlossinfogebäude in Höchstädt.
Mit 18 Jahren flog die Höchstädterin im November 2012 nach ihrem Abitur zum ersten Mal nach Indien. In der Stadt Madurai, im Bundesstaat Tamil Nadu im Süden des Subkontinents, arbeitete sie für eine britische Organisation in einem Kinderheim. Sie kam damals bei einer Gastfamilie unter. In der ersten Zeit lernte Anna Theresa die enormen Unterschiede zwischen Deutschland und Indien kennen, mit denen sie manchmal auch überfordert war. Vor allem fiel ihr auf, dass es in Indien ständig Reis zu essen gibt. Eine normale Ernährung, wie man sie in Deutschland gewohnt ist, ist für Inder kaum bezahlbar. „Schon in der ersten Woche kam in mir der Wunsch nach Integration auf“, sagt sie. Deshalb fing sie an, die in der Region vorherrschende Sprache Tamil zu lernen.
Während ihrer Zeit im Kinderheim machte sie innerhalb Indiens immer wieder Urlaube, um auch vom Rest dieses riesigen Landes etwas zu sehen. Hier musste sie am eigenen Leib erfahren, wie es ist, sich ausgegrenzt zu fühlen. Denn nicht nur durch ihre Hautfarbe fiel sie immer wieder auf. Auch durch ihr Backpackeroutfit – eine alte Hose, dreckiges T-Shirt und ein Rucksack – wurde sie oft nicht richtig ernst genommen. Erst später bemerkte sie, dass es in Indien besonders wichtig ist, ordentliche Kleidung zu tragen. Deshalb orientierte sie sich später an der Kleiderwahl der einheimischen Frauen. So wirkte sie nicht mehr wie eine Touristin.
Im Laufe ihres ersten Aufenthalts in Indien lernte sie auch Palani Kumar kennen. Er gründete im Jahr 2009 die Organisation TentEEE (tent for education, environment, employment). Zwischen den beiden entwickelte sich im Laufe der Zeit eine enge Freundschaft. Später gründeten sie gemeinsam das Pro- ProActive Madurai. Als sie das erste Mal zurück nach Deutschland flog, fühlte sich Anna Theresa gar nicht wohl. Sie hatte sich in Indien sehr gut eingelebt, obwohl sie anfangs große Schwierigkeiten hatte. „Ich hatte Angst vor dem Alltag in Deutschland“, sagt sie. Zum Wintersemester 2013 wollte sie eigentlich anfangen zu studieren. Stattdessen zog es sie aber wieder in die Ferne.
Ab November machte sie eine Rucksacktour durch Laos, Kambodscha und Indien, an deren Ende sie wieder in der Stadt Madurai landete. In Laos schrieb sie in ihr Tagebuch: „Nicht vergessen: Laos ist ein Geisteszustand.“Denn der Alltag dort sei nicht vergleichbar mit dem deutschen. In einem maßlos überfüllten Bus über Straßen zu fahren, die mehr an schlecht ausgebaute Feldwege erinnern, ist sicher nicht für jeden etwas. An der Grenze nach Kambodscha saß sie dann alleine, ohne Geld und ohne Pass. Denn den hatte ihre Mitreisende, deren Bus schon eine Stunde vorher über die Grenze ins Nachbarland fuhr. In der Zeit schrieb sie sogar für unsere Zeitung Reiseberichte. Und sammelte Spenden für die Projekte in Indien, die sie unterstützen wollte.
Nachdem sie begonnen hatte, Südostasienstudien in Heidelberg zu studieren, reiste Anna Theresa mit einigen Freunden aus dem gleichen Studiengang für einen TamilSprachkurs ein drittes Mal nach Indien. Durch den Kurs machte sie immer größere Fortschritte. „Mit jeder Reise fühlte ich mich ein bisschen mehr indisch“, sagt sie.
Dass sie und ihr Freundeskreis sich durch ihre Reisen nach Indien veränderten, bemerkte sie bei ihrer vierten Reise. „Ich hing dann in der Tamilisten-Szene ab und führte mehr Diskussionen über Literatur und Politik, als über alltägliche Dinge zu reden“, erzählt Anna Theresa.
Für ein Praktikum machte sie dann noch eine Reise nach Indien. Sie besuchte ihren Freund Palani Kumar und dessen Ehefrau in ihrem Heimatdorf S. Meenakshipuram. Bei einer Diskussion über die Missjekt stände im Bildungssystem beschloss Anna Theresa zusammen mit Palani Kumar die Organisation ProActive Madurai zu gründen. Das Projekt unterstützte ursprünglich das Kinderheim „Humanist Home for Children“. Aus persönlichen Gründen wurde die Zusammenarbeit aber abgebrochen. „Die Hilfe für Kinderheime ist in Indien schwierig“, erzählt Anna Theresa. Denn der indische Staat sähe es nicht gern, wenn sich Ausländer einmischen. Die Kinderheime gehören der Regierung. Das Projekt baut aber auch ein Schulgebäude in dem Dorf. Der Bau kommt gut voran. Bisher wurden 35 Baumsetzlinge für den zukünftigen Garten gepflanzt. Außerdem steht seit Oktober vergangenen Jahres der Zaun, und eine Wasserpumpe wurde auch schon installiert. Für die Vollendung fehlen aber noch 28 000 Euro.
Anna Theresa Schmid betont, dass die Idee zum Bau des Schulhauses von den Menschen aus dem Dorf ausging. Denn das öffentliche Schulsystem steht schon seit Jahren in der Kritik. Deswegen wird es in der Schule auch ein eigenes Schulsystem geben, unabhängig vom staatlichen. Den Schülern sollen „life skills“vermittelt werden. Sie sollen spielerisch Englisch lernen und vor allem sollen sie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung gefördert werden. Zudem soll es Vorträge und Weiterbildungskurse für die restlichen Dorfbewohner geben. Auch deshalb freuen sich die Bewohner des Dorfes auf die neue Schule. „Da gibt es eigentlich keinen Neid, da gibt es nur Vorfreude“, sagt Anna Theresa.
Jetzt schreibt die junge Frau an ihrer Bachelor-Arbeit. Ihr Leben hat sich durch die Reisen nach Indien grundsätzlich verändert. „Heute bin ich ein komplett anderer Mensch“, sagt sie. 2017 ist das erste Jahr seit ihrem ersten Flug nach Indien, das sie komplett in Deutschland verbringt. Auf die Frage, wo sie sich denn eigentlich zu Hause fühlt, antwortet sie: „Überall. Heidelberg, Höchstädt und natürlich auch in Indien.“