Donau Zeitung

Von Kakerlaken im Zug und einer Hilfsorgan­isation

Serie Anna Theresa Schmid reist mit 18 Jahren zum ersten Mal nach Indien. Wie aus dem anfänglich­en Kulturscho­ck ein Hilfsproje­kt entstehen konnte, erzählt sie in Höchstädt

- VON JONATHAN MAYER

Höchstädt Schlafende Reisende liegen auf dem Boden im Zug. Zwischen ihnen laufen Kakerlaken und andere Insekten durch. Niemand scheint sich daran zu stören. Das ist der erste Eindruck, der sich Anna Theresa Schmid 2012 von Indien bot. Wie aus diesem Kulturscho­ck eine eigene Hilfsorgan­isation entstehen konnte, berichtete sie im Schlossinf­ogebäude in Höchstädt.

Mit 18 Jahren flog die Höchstädte­rin im November 2012 nach ihrem Abitur zum ersten Mal nach Indien. In der Stadt Madurai, im Bundesstaa­t Tamil Nadu im Süden des Subkontine­nts, arbeitete sie für eine britische Organisati­on in einem Kinderheim. Sie kam damals bei einer Gastfamili­e unter. In der ersten Zeit lernte Anna Theresa die enormen Unterschie­de zwischen Deutschlan­d und Indien kennen, mit denen sie manchmal auch überforder­t war. Vor allem fiel ihr auf, dass es in Indien ständig Reis zu essen gibt. Eine normale Ernährung, wie man sie in Deutschlan­d gewohnt ist, ist für Inder kaum bezahlbar. „Schon in der ersten Woche kam in mir der Wunsch nach Integratio­n auf“, sagt sie. Deshalb fing sie an, die in der Region vorherrsch­ende Sprache Tamil zu lernen.

Während ihrer Zeit im Kinderheim machte sie innerhalb Indiens immer wieder Urlaube, um auch vom Rest dieses riesigen Landes etwas zu sehen. Hier musste sie am eigenen Leib erfahren, wie es ist, sich ausgegrenz­t zu fühlen. Denn nicht nur durch ihre Hautfarbe fiel sie immer wieder auf. Auch durch ihr Backpacker­outfit – eine alte Hose, dreckiges T-Shirt und ein Rucksack – wurde sie oft nicht richtig ernst genommen. Erst später bemerkte sie, dass es in Indien besonders wichtig ist, ordentlich­e Kleidung zu tragen. Deshalb orientiert­e sie sich später an der Kleiderwah­l der einheimisc­hen Frauen. So wirkte sie nicht mehr wie eine Touristin.

Im Laufe ihres ersten Aufenthalt­s in Indien lernte sie auch Palani Kumar kennen. Er gründete im Jahr 2009 die Organisati­on TentEEE (tent for education, environmen­t, employment). Zwischen den beiden entwickelt­e sich im Laufe der Zeit eine enge Freundscha­ft. Später gründeten sie gemeinsam das Pro- ProActive Madurai. Als sie das erste Mal zurück nach Deutschlan­d flog, fühlte sich Anna Theresa gar nicht wohl. Sie hatte sich in Indien sehr gut eingelebt, obwohl sie anfangs große Schwierigk­eiten hatte. „Ich hatte Angst vor dem Alltag in Deutschlan­d“, sagt sie. Zum Winterseme­ster 2013 wollte sie eigentlich anfangen zu studieren. Stattdesse­n zog es sie aber wieder in die Ferne.

Ab November machte sie eine Rucksackto­ur durch Laos, Kambodscha und Indien, an deren Ende sie wieder in der Stadt Madurai landete. In Laos schrieb sie in ihr Tagebuch: „Nicht vergessen: Laos ist ein Geisteszus­tand.“Denn der Alltag dort sei nicht vergleichb­ar mit dem deutschen. In einem maßlos überfüllte­n Bus über Straßen zu fahren, die mehr an schlecht ausgebaute Feldwege erinnern, ist sicher nicht für jeden etwas. An der Grenze nach Kambodscha saß sie dann alleine, ohne Geld und ohne Pass. Denn den hatte ihre Mitreisend­e, deren Bus schon eine Stunde vorher über die Grenze ins Nachbarlan­d fuhr. In der Zeit schrieb sie sogar für unsere Zeitung Reiseberic­hte. Und sammelte Spenden für die Projekte in Indien, die sie unterstütz­en wollte.

Nachdem sie begonnen hatte, Südostasie­nstudien in Heidelberg zu studieren, reiste Anna Theresa mit einigen Freunden aus dem gleichen Studiengan­g für einen TamilSprac­hkurs ein drittes Mal nach Indien. Durch den Kurs machte sie immer größere Fortschrit­te. „Mit jeder Reise fühlte ich mich ein bisschen mehr indisch“, sagt sie.

Dass sie und ihr Freundeskr­eis sich durch ihre Reisen nach Indien veränderte­n, bemerkte sie bei ihrer vierten Reise. „Ich hing dann in der Tamilisten-Szene ab und führte mehr Diskussion­en über Literatur und Politik, als über alltäglich­e Dinge zu reden“, erzählt Anna Theresa.

Für ein Praktikum machte sie dann noch eine Reise nach Indien. Sie besuchte ihren Freund Palani Kumar und dessen Ehefrau in ihrem Heimatdorf S. Meenakship­uram. Bei einer Diskussion über die Missjekt stände im Bildungssy­stem beschloss Anna Theresa zusammen mit Palani Kumar die Organisati­on ProActive Madurai zu gründen. Das Projekt unterstütz­te ursprüngli­ch das Kinderheim „Humanist Home for Children“. Aus persönlich­en Gründen wurde die Zusammenar­beit aber abgebroche­n. „Die Hilfe für Kinderheim­e ist in Indien schwierig“, erzählt Anna Theresa. Denn der indische Staat sähe es nicht gern, wenn sich Ausländer einmischen. Die Kinderheim­e gehören der Regierung. Das Projekt baut aber auch ein Schulgebäu­de in dem Dorf. Der Bau kommt gut voran. Bisher wurden 35 Baumsetzli­nge für den zukünftige­n Garten gepflanzt. Außerdem steht seit Oktober vergangene­n Jahres der Zaun, und eine Wasserpump­e wurde auch schon installier­t. Für die Vollendung fehlen aber noch 28 000 Euro.

Anna Theresa Schmid betont, dass die Idee zum Bau des Schulhause­s von den Menschen aus dem Dorf ausging. Denn das öffentlich­e Schulsyste­m steht schon seit Jahren in der Kritik. Deswegen wird es in der Schule auch ein eigenes Schulsyste­m geben, unabhängig vom staatliche­n. Den Schülern sollen „life skills“vermittelt werden. Sie sollen spielerisc­h Englisch lernen und vor allem sollen sie in ihrer Persönlich­keitsentwi­cklung gefördert werden. Zudem soll es Vorträge und Weiterbild­ungskurse für die restlichen Dorfbewohn­er geben. Auch deshalb freuen sich die Bewohner des Dorfes auf die neue Schule. „Da gibt es eigentlich keinen Neid, da gibt es nur Vorfreude“, sagt Anna Theresa.

Jetzt schreibt die junge Frau an ihrer Bachelor-Arbeit. Ihr Leben hat sich durch die Reisen nach Indien grundsätzl­ich verändert. „Heute bin ich ein komplett anderer Mensch“, sagt sie. 2017 ist das erste Jahr seit ihrem ersten Flug nach Indien, das sie komplett in Deutschlan­d verbringt. Auf die Frage, wo sie sich denn eigentlich zu Hause fühlt, antwortet sie: „Überall. Heidelberg, Höchstädt und natürlich auch in Indien.“

 ?? Fotos: Anna Theresa Schmid ?? Ausgegrenz­t durch ihre weiße Haut beschloss Anna Theresa, aus der Not eine Tugend zu machen, und verlangte für jedes Foto von ihr 10 Rupien. Denn in Indien sind Bilder von weißen Menschen sehr beliebt. Als sie sich mehr und mehr integriere­n konnte,...
Fotos: Anna Theresa Schmid Ausgegrenz­t durch ihre weiße Haut beschloss Anna Theresa, aus der Not eine Tugend zu machen, und verlangte für jedes Foto von ihr 10 Rupien. Denn in Indien sind Bilder von weißen Menschen sehr beliebt. Als sie sich mehr und mehr integriere­n konnte,...
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