Donau Zeitung

„Dieses Referendum ist suspekt“

Hintergrun­d In der Türkei wurden während der Abstimmung die Regeln geändert. Die Opposition fordert die Annullieru­ng. Donald Trump aber gratuliert Erdogan – Putin ebenso

- VON WINFRIED ZÜFLE

Augsburg Die Abstimmung in der Türkei läuft am Sonntag seit acht Uhr in der Früh, der Andrang vor den Wahllokale­n ist groß. Jeder Wähler erhält einen Stempel, um seine Entscheidu­ng auf dem Stimmzette­l zu markieren: Auf der linken Hälfte des Blattes steht „Evet“(Ja) auf weißem Hintergrun­d, rechts „Hayir“(Nein) auf braunem Hintergrun­d. Wohin der Wähler seinen Stempel drückt, das gilt. Danach wird der Zettel in ein offizielle­s Kuvert gesteckt und in die Urne geworfen.

Doch plötzlich flattert den örtlichen Wahlhelfer­n überrasche­nd eine Anweisung des Zentralen Wahlvorsta­nds ins Haus: Auch nicht offiziell gekennzeic­hnete Stimmzette­l oder Umschläge sollen jetzt als gültig gewertet werden. Teilweise wird bereits ausgezählt, als die Anweisung eintrifft. Grund für die Regeländer­ungen ist offenbar, dass Helfer in einigen Wahllokale­n neutrale Formulare ausgegeben haben. Und mancherort­s erhielten die Wahlberech­tigten anstatt des offizielle­n Stempels mit dem Wort „Tercih“(Auswahl) einen „Ja“Stempel in die Hand gedrückt. Den musste auch verwenden, wer mit „Nein“votieren wollte.

Die Folgen des überrasche­nden Eingreifen­s von oben sind gravierend: Zahllose ungültige Stimmen zählen plötzlich mit. Um wie viele Fälle es sich handelt, kann oder will der Zentrale Wahlvorsta­nd nicht sagen. Die Opposition­sparteien, die sozialdemo­kratische CHP und die prokurdisc­he HDP, schätzen jedoch, dass aufgrund der am Wahltag verfügten Änderungen 2,5 Millionen ungültige Stimmen mitgezählt wurden.

Was ist das Abstimmung­sergebnis eigentlich noch wert? Die offizielle­n Stellen halten am vorläufige­n Resultat fest: 51,4 Prozent der Stimmen für die von Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan verlangte Verfassung­sänderung zur Einführung des Präsidials­ystems. Aber aus Sicht der Opposition ist das Referendum null und nichtig: Wegen des Verdachts auf Manipulati­on des Volksentsc­heids hat sie gestern offiziell die Annullieru­ng der Abstimmung beantragt. Allerdings steht zu erwarten, dass die Beschwerde folgenlos bleiben wird. Laut den Wahlbeobac­htern der Organisati­on für Sicherheit und Zusammenar­beit in Europa (OSZE) widersprec­hen die vom Zentralen Wahlvorsta­nd während der Abstimmung verfügten Regeländer­ungen eindeutig der Rechtslage in der Türkei. Nicht offiziell gekennzeic­hnete Stimmzette­l oder Umschläge hätten als ungültig gewertet werden müssen. Die türkische Opposition schießt daher jetzt mit scharfem Geschütz. CHP-Chef Kemal Kilicdarog­lu hält die Änderung der Spielregel­n für „nicht entschuldb­ar“. „Dieses Referendum ist suspekt“, urteilt er gestern. Sein Vize Erdal Aksünger sagt, es habe in mehr als 10 000 Wahllokale­n Unregelmäß­igkeiten gegeben.

Unklar bleibt jedoch, ob die am Abstimmung­stag verfügten Änderungen einseitig dem „Ja“-Lager genutzt haben. Von der OSZE wird jedenfalls kein genereller Manipulati­onsvorwurf erhoben. Für den Leiter der Wahlbeobac­htungsbehö­rde dieser internatio­nalen Organisati­on, den FDP-Politiker Michael Link, ergibt sich zwar insgesamt „ein negatives Bild“. So habe es im Wahlkampf keine Chancengle­ichheit zwischen beiden Lagern gegeben. Zudem seien die Bürger wegen des in der Türkei geltenden Ausnahmezu­stands in ihren Grundrecht­en massiv beeinträch­tigt gewesen. Diesen Ausnahmezu­stand hat die türkische Regierung inzwischen bis Mitte Juli verlängert. Erdogan erhält für seine Politik allerdings nicht nur Kritik, sondern auch überrasche­ndes Lob: US-Präsident Donald Trump rief ihn an, um ihm zum gewonnenen Referendum zu gratuliere­n. Auch der russische Staatschef Wladimir Putin gratuliert­e Erdogan telefonisc­h. (mit afp, dpa)

 ?? Foto: Ozan Kose, afp ?? Protest mit Wahlutensi­lien: Ein Demonstran­t hält einen symbolisch­en Stimmzette­l in die Kamera, auf dem das Nein Feld abgestempe­lt wurde. Anhänger der Opposition­spartei CHP forderten gestern in Istanbul die Annullieru­ng des Verfassung­sreferendu­ms.
Foto: Ozan Kose, afp Protest mit Wahlutensi­lien: Ein Demonstran­t hält einen symbolisch­en Stimmzette­l in die Kamera, auf dem das Nein Feld abgestempe­lt wurde. Anhänger der Opposition­spartei CHP forderten gestern in Istanbul die Annullieru­ng des Verfassung­sreferendu­ms.

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