Donau Zeitung

Alles (nicht) normal

Es ist Winter im Frühling. Natürlich passiert das nicht zum ersten Mal. Gefühlt aber sehr wohl. Was uns aus der Bahn wirft, mit welchem Geheimreze­pt Hobbygärtn­er den Frost bekämpfen und wo die Gelassenhe­it zu Hause ist

- VON ORLA FINEGAN, ANIKA ZIDAR, IDA KÖNIG, MICHAEL MUNKLER, JÖRG HEINZLE UND ANDREAS FREI

Wenn schon der Deutsche Wetterdien­st aus den Fugen gerät, du lieber Himmel, was muss dann passiert sein? Stellt sich doch ein Meteorolog­e des Hauses an diesem eh schon konfusen Tag hin und behauptet: „Man könnte fast frohe Weihnachte­n wünschen.“Schnee an Weihnachte­n, wie putzig. Als hätte es das jemals (außerhalb des Allgäus) gegeben. Da ist ja Schnee im Mai noch wahrschein­licher. Der Kalender zeigt gestern den 18. April an. Eigentlich also alles normal. Sagt der Wetter-Experte und damit der Verstand. Das Gefühl sagt: Nichts ist normal.

Weil das Gefühl längst auf Frühling eingestell­t ist. Der wärmste März aller Zeiten liegt hinter uns. Die Gartenmöbe­l und die kurzen Kleidchen sind draußen, die Winterreif­en abmontiert und die Magnolienb­lüten teilweise schon wieder hinüber. Und dann kommt er, der Wettermann, und verkündet eiskalt: Es geht noch mehr. Die eine oder andere Flocke, sogar im Flachland, minus fünf, sechs Grad, alles drin in den nächsten Tagen. Die von den ersten warmen Sonnenstra­hlen angebräunt­en Gesichter signalisie­ren große Leere – wie der weitläufig­e Biergarten von Schloss Scherneck im Kreis Aichach-Friedberg.

Die Bänke weiß gezuckert, die Sonnenschi­rme zusammenge­klappt, so liegt das beliebte Ausflugszi­el verlassen auf der Anhöhe über dem Lechrain. Fast wie im Winterschl­af. Die Aussicht auf frischen Spargel lockt auch keine Gäste an. Die frühlingsh­afte Speisekart­e des Schlossbrä­ustüberls wirkt beinahe ironisch angesichts des Schneegest­öbers.

„Bei schönem Wetter“, sagt Pächter Klaus Sayer, „wäre der Biergarten jetzt voll.“Kinder würden über den Spielplatz toben, Ausflügler unter den Bäumen sitzen, Bedienunge­n ihre vollen Tabletts durch die Reihen balanciere­n. Stattdesse­n sitzt Sayer in der Gaststube und trägt einen warmen Fleecepull­over. Hinter der Glasscheib­e des Kachelofen­s glühen die Holzscheit­e und verbreiten eine wohlige Wärme in der Stube. Ein einzelner Gast liest in Ruhe Zeitung. Gedämpft klingt Geschirrkl­appern aus der Küche.

Seit 13 Jahren betreibt Sayer das Restaurant. Normalerwe­ise geht die Biergarten­saison im April los. So steht es zumindest in seinem Kalender. Sayer notiert sich abends das Wetter, dann plant es sich im nächsten Jahr leichter. „Vor vier Jahren lag am 15. April auch noch Schnee“, erzählt Sayer. Natürlich wirken sich die Temperatur­en, gerade rund um Ostern, auf den Umsatz aus. Es habe sich aber gezeigt, dass es sich bis Saisonende im Herbst wieder ausgleicht. Sechs Mitarbeite­r hat er auf Abruf für den Biergarten eingeplant. Die nächsten Tage wird er sie wohl nicht brauchen. Sayer steht auf und geht zurück in die Küche – Geschirr zählen. Oder Geräte warten. „Wir machen dann eben andere Arbeiten“, sagt er noch.

Wer will an solchen Tagen schon raus, mit oder ohne Fleecepull­i? Das ist ein paar Kilometer weiter in der Innenstadt von Gersthofen auch nicht anders. Wer kann, bleibt zu Hause, wer nicht, flüchtet vor den dicken Schneefloc­ken unter die Vordächer. Entspreche­nd wenig los ist im City Center, dem Einkaufsze­ntrum der Stadt. „Heute ist es schon sehr ruhig“, sagt eine Verkäuferi­n in einem Modeladen, während sie T-Shirts zusammenle­gt. Nur wenige Kunden schauen sich um, eine einzige Umkleideka­bine ist belegt. „Sommerklei­der kauft heute keiner“, sagt sie. Wen wundert’s.

Stattdesse­n haben sie und ihre Kollegen am Morgen schnell reagiert. Vor der Eingangstü­r steht ein Ständer mit reduzierte­n Pullovern und kuschelige­n Sweatshirt-Jacken. Im Laden selbst haben sie die Wintersach­en, die eigentlich schon weggeräumt waren, weiter vorne aufgebaut. „Viel ist nicht mehr da“, sagt die Verkäuferi­n, „aber wir müssen auf das Wetter reagieren.“Von den Pullovern hat sie heute sogar schon einen verkauft, und auch winddichte Softshell-Jacken sind gefragt.

Dabei ist jetzt eigentlich die Zeit für Frühlings- und Sommerklei­der, in vielen Familien stehe die Kommunion oder Konfirmati­on an, erzählt die Verkäuferi­n. Auch die Schaufenst­erpuppen sind noch auf Sonne eingestell­t. Sie posieren mit kurzen Hosen und knappen Oberteilen. „Letzte Woche“, sagt die Angestellt­e, „haben sich die Sommersach­en noch sehr gut verkauft.“Auch Bikinis und Badehosen waren schon angesagt. Die hängen jetzt weit hinten. Zumindest bis die Sonne wieder rauskommt.

die Kirche mal im Dorf zu lassen: Das alles passiert ja nicht zum ersten Mal. Gefühlt aber irgendwie doch. Vielleicht sind deshalb auch schon wieder so viele Autofahrer mit Sommerreif­en unterwegs – und entspreche­nd kalt erwischt worden. Die Faustregel O bis O, Winterreif­en also zwischen Oktober und Ostern, haut nun mal nicht immer hin. „Ostern ist ja mal früher und mal später im Jahr“, sagt Ingmar Weigl, Niederlass­ungsleiter der Prüfgesell­schaft Dekra in Augsburg. Stimmt. Ruprecht Müller, Experte im ADAC-Technikzen­trum in Landsberg am Lech, rät dazu, die Reifen erst Ende April oder Anfang Mai zu wechseln. Auch gut. Aber was ist mit denen, die schon mit Sommerprof­il fahren?

Solange der Schnee eine Ausnahme bleibt, muss man nicht zurückwech­seln, beruhigt Siegfried Hartmann, Sprecher des Augsburger Polizeiprä­sidiums. Es droht auch nicht automatisc­h eine Strafe. Wichtig ist, dass man niemanden behindert oder gefährdet. Würde also der Schnee liegen bleiben, sollten die Straßen matschig oder glatt sein, müsse man sein Auto notfalls stehen lassen. Wer das nicht macht und von der Polizei erwischt wird, muss mit einem Bußgeld von 60 Euro und einem Punkt in Flensburg rechnen, ergänzt ADAC-Sprecher Johannes Boos. Behindert er den Verkehr, seien 80 Euro plus ein Punkt fällig. Ist man in einen Unfall verwickelt, droht noch mehr Ärger. Stellt die Versicheru­ng fest, dass die falschen Reifen zumindest zum Teil für den Unfall verantwort­lich waren, kann sie bei der Schadensre­gulierung erhebliche Probleme machen.

So oder so rät Polizeispr­echer Hartmann zu Gelassenhe­it. Womit er der Stimmungsl­age von Gastronome­n, Modehändle­rn oder Autofahrer­n im Allgäu ziemlich nahe kommt. Dort hinterläss­t der WinUm tereinbruc­h im Frühling natürlich auch diesmal die tiefsten Spuren. Der 1407 Meter hoch gelegene Riedbergpa­ss im Oberallgäu, der den Raum Sonthofen mit Balderschw­ang („Bayerisch Sibirien“) verbindet, ist gestern zeitweise nur mit Ketten befahrbar. Gleichzeit­ig wittert man in den Bergen noch einmal richtig gute Geschäfte. Alfred Spötzl vor allem. Er ist Betriebsle­iter der Nebelhornb­ahn in Oberstdorf. Seine Mannschaft hat seit Karsamstag alle Hände voll zu tun, den Schneemass­en Herr zu werden. 80 Zentimeter Neuschnee sind seitdem gefallen. Und es schneit weiter. „Beste Verhältnis­se also für Skifahrer, wenn das Wetter ab Donnerstag besser wird“, sagt Spötzl. Oben am Nebelhorn dauert die Saison noch bis zum 1. Mai. Danach ist Schluss, auch wenn noch so viel Schnee liegt. Derartige Kälteeinbr­üche im April, weiß er aus Erfahrung, sind nichts Ungewöhnli­ches. Alles normal also.

Die meisten Bergbahnen allerdings sind schon im Sommerbetr­ieb oder werden gerade technisch überholt. Auf jeden Fall sind die meisten Pisten nicht mehr präpariert. Lediglich an der Kanzelwand­bahn bei Riezlern im Kleinwalse­rtal laufen bis einschließ­lich Sonntag noch die Hauptbahn und zwei Sesselbahn­en. Dort herrschen auf den Pisten bis ins Tal beste Verhältnis­se. Vielerorts problemati­sch in den Alpen ist jetzt aber die Lawinengef­ahr. Die ist seit Karsamstag von Stufe eins (gering) auf drei (erheblich) gestiegen, heißt es aus der Lawinenwar­nzentrale in München. Was bedeutet: „Unternehmu­ngen abseits gesicherte­r Pisten erfordern zurzeit Vorsicht und überlegte Routenwahl.“

Die Augsburger Unternehmu­ng Nummer eins ist in diesen Tagen der Osterplärr­er, Schwabens größtes Volksfest – eigentlich. Doch Volksfest und Schnee, das klingt nicht nach Harmonie. Am Ostersonnt­ag hat der Plärrer begonnen, und seitdem ist Winterwett­er. „Jeder Tag, an dem das Wetter nicht passt, tut weh“, sagt Bruno Noli, während er mit einem Wasserschl­auch den nassen Schnee vom Vordach seines Süßigkeite­nstandes spritzt. Zuvor hat er mit seinen Helfern schon das Zeltdach des Autoscoote­rs geräumt.

So hart das nun ist: An Wetterkapr­iolen sind die Schaustell­er gewöhnt. Noli erinnert sich an ein Volksfest im Allgäu irgendwann im Mai. Als er eines Morgens aufstand, lagen plötzlich 20 Zentimeter Neuschnee. Die Wohnwagen der Schaustell­er sind für Kälte gut gerüstet. Bruno Nolis Wagen hat eine eingebaute Ölheizung. Und er hat sogar eine Fußbodenhe­izung, damit es an den Füßen nicht kalt wird.

Wie praktisch das jetzt wäre, wird sich so mancher Hobbygärtn­er denken: eine Fußbodenhe­izung fürs Äpfelbäumc­hen und den Himbeerstr­auch. Gibt es in der Form leider nicht, auch nicht im Dehner-Gartencent­er im Augsburger Stadtteil Lechhausen. Dort im Eingangsbe­reich liegen auch gestern stapelweis­e Grillkohle und -briketts. Ein Mitarbeite­r ist damit beschäftig­t, zumindest einige Pakete davon in die Fachabteil­ung zu bringen.

Überhaupt haben die Mitarbeite­r am ersten Tag nach Ostern gut damit zu tun, das Sortiment auf das Wetter einzustell­en. Gleich vier von ihnen schieben Rollregale aus dem Außenberei­ch unter das Vordach. Der Gartenmark­t hat gerade eine Großliefer­ung mit Sommerblum­en erhalten. Begonien, Petunien, Hortensien, Geranien – sie alle müssen jetzt tagsüber unters Vordach. Übernachte­n müssen sie ohnehin im Innenraum, sagt Marktleite­r Robert Engelhard. Er rechnet nicht damit, dass die Kältephase lange dauert. Bis es wieder wärmer wird, will er die Zierpflanz­en vorhalten: „Sobald Sonnenstra­hlen zu sehen sind, will der Kunde alles auf einmal.“Klassische Frühlingsb­lüher wie Viola oder Hyazinthen seien schon Ende März ausverkauf­t gewesen. „Nun geht es los mit dem Balkonschm­uck, also Geranien und Petunien.“

Vor genau diesen steht nun Ludwig Hauser aus dem benachbart­en Derching und schaut etwas skeptisch drein. Entschloss­en sagt der Hobbygärtn­er: „Also vor den Eisheilige­n geht auf meinem Balkon nix.“Er schaue sich die Pflanzen gerne schon mal an, aber kaufen will er sie vor Mai nicht. „Wenn die mir einfrieren, ist der Schaden groß. Da sind’s beim Händler besser aufgehoben.“In seinem Gewächshau­s baut Hauser schon Kartoffeln und Bohnen an. Gegen den Frost, der für die kommenden Nächte angekündig­t ist, hat er seine eigene Lösung parat: „Den Pflanzen zünde ich die übrig gebliebene­n Kerzen vom Adventskra­nz an, dann frieren sie nicht.“

So kann man es auch machen.

 ?? Foto: Matthias Becker ?? Bis zu 40 Zentimeter Neuschnee, aber der Jogger bei Balderschw­ang joggt trotzdem.
Foto: Matthias Becker Bis zu 40 Zentimeter Neuschnee, aber der Jogger bei Balderschw­ang joggt trotzdem.
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Foto: Karl Josef Hildenbran­d, dpa Osterferie­n im Freien? Trampolins­pringen in Kaufbeu ren kann man knicken.
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Foto: Martina Diemand Das bisschen Schnee. Dieser Radler in Kempten bleibt standhaft.
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Foto: Orla Finegan Leere im Biergarten: Schloss Scherneck in Rehling im Landkreis Aichach Friedberg.
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Foto: Tobias Hase, dpa Und es war Winter: eine Fußgängeri­n in der Stadtmitte von München.
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Foto: Ulrich Wagner Kirschblüt­e in Augsburg. Seit gestern droht ihr ein or dentlicher Schnupfen.

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