Paul Auster: Die Brooklyn Revue (7)
Toms Intelligenz war durch den Job nicht beeinträchtigt, aber niemand wollte mehr hören, was er zu sagen hatte, am wenigsten die Frauen, mit denen er sprach und die davon ausgingen, dass junge Männer immerzu kühne Ideen und kluge Pläne hatten, wie sie die Welt erobern würden. Tom vergrätzte sie mit seinen Zweifeln und Selbstanalysen, seinen verworrenen Erörterungen über das Wesen der Realität und seiner Zögerlichkeit. Schlimm genug, dass er sein Geld mit Taxifahren verdiente, aber ein philosophierender Taxifahrer, der in Armeeklamotten herumlief und einen dicken Wanst vor sich her trug, ging doch ein bisschen zu weit. Natürlich war er ein liebenswürdiger Mensch, und keine hatte direkt etwas gegen ihn, aber ein ernsthafter Kandidat war er nicht - weder für die Ehe noch auch nur für ein Abenteuer. Tom zog sich zunehmend in sich selbst zurück. Ein weiteres Jahr verging, und inzwischen war er so gründlich isoliert, dass er seinen dreißigsten Geburtstag ganz allein verbrachte. Die Wahrheit ist, dass er den Tag verschwitzt hatte, und da niemand anrief, um ihm zu gratulieren oder alles Gute zu wünschen, geschah es, dass es ihm erst am nächsten Morgen um zwei endlich einfiel. Da war er irgendwo draußen in Queens, wo er zwei betrunkene Geschäftsleute zu einem Stripclub namens Garden of Earthly Delights gebracht hatte, und um den Beginn der vierten Dekade seines Daseins zu feiern, fuhr er zum Metropolitan Diner am Northern Boulevard, nahm am Tresen Platz und genehmigte sich einen Schoko-Milkshake, zwei Hamburger und eine Portion Fritten.
Unmöglich zu sagen, wie lange Tom ohne Harry Brightman noch in diesem Fegefeuer geblieben wäre. Harrys Laden lag in der Seventh Avenue, nur wenige Blocks von Toms Wohnung entfernt, und Tom hatte sich angewöhnt, täglich einmal in Brightman’s Attic vorbeizugehen. Er kaufte nur selten etwas, stö- berte nur gern vor Schichtbeginn eine halbe oder ganze Stunde in den Büchern im Erdgeschoss herum. Zu Tausenden drängten sie sich da - alles Mögliche, von vergriffenen Wörterbüchern über vergessene Bestseller bis hin zu ledergebundenen Shakespeare-Ausgaben. Solche Papiergrüfte hatten es ihm schon immer angetan; hier konnte er in Stapeln ausrangierter Bücher blättern und den schönen alten Staubgeruch genießen. Bei einem seiner ersten Besuche hatte er Harry nach einer bestimmten Kafka-Biographie gefragt, und so waren die beiden ins Gespräch gekommen. Das war die erste von vielen kleinen Plaudereien, und obwohl Harry nicht immer unten im Laden war, wenn Tom hereinschneite (meist hatte er oben zu tun), unterhielten sie sich in den folgenden Monaten doch oft genug, dass Harry nicht nur den Namen von Toms Heimatstadt und das Thema seiner abgebrochenen Dissertation erfuhr (Clarel - Melvilles gigantischer und unlesbarer Versroman), sondern auch die Erkenntnis zu verdauen hatte, dass Tom an Sex mit Männern nicht interessiert war. Trotz dieser letzteren Enttäuschung wurde Harry bald klar, dass Tom den idealen Gehilfen für sein Geschäft mit seltenen Büchern und Manuskripten im Obergeschoss abgeben würde. Er bot ihm den Job einmal an, er bot ihm den Job ein Dutzend Mal an, und obwohl Tom das Angebot immer wieder ausschlug, gab Harry die Hoffnung nicht auf, dass er eines Tages ja sagen würde. Er begriff, dass Tom sich im Winterschlaf befand, blind mit einem dunklen Engel der Verzweiflung rang und dass es früher oder später ein Ende damit haben würde. Das stand fest, auch wenn Tom selbst es noch nicht wusste. Aber wenn er es erst einmal wüsste, würde er den Unsinn mit dem Taxifahren auf der Stelle einstellen.
Tom unterhielt sich gern mit Harry, weil Harry so drollig und unverblümt war, ein Mann, der eine solche Fülle hinreißender Sprüche und herrlicher Spitzfindigkeiten auf Lager hatte, dass man nie wusste, was er als Nächstes von sich geben würde. Vom Aussehen her hätte man ihn für irgendeinen nicht mehr ganz taufrischen New Yorker Schwulen gehalten. Das ganze äußerliche Brimborium diente allein diesem einen Zweck - die gefärbten Haare und Augenbrauen, die Seidenkrawatten und Segelclub-Blazer, die tuntenhafte Ausdrucksweise -, aber wenn man ihn ein bisschen näher kennen lernte, erwies er sich als höchst scharfsinniger und faszinierender Zeitgenosse. Seine Art, jemanden anzugehen, hatte etwas Provozierendes und kündete von einer Intelligenz, der man gute Antworten schuldig zu sein glaubte, wenn er einen mit seinen durchtriebenen, oft allzu persönlichen Fragen löcherte. Einfach nur antworten, das reichte bei Harry nicht. Was man sagte, musste funkeln und glänzen, musste beweisen, dass man mehr war als irgendein Dummkopf, der sich nur so durchs Leben schleppte. Für genau das aber hielt Tom sich in jener Zeit, und so musste er sich schon besondere Mühe geben, wenn er im Gespräch mit Harry nicht den Kürzeren ziehen wollte. Und ebendiese Mühe reizte ihn so an ihren Unterhaltungen. Tom gefiel es, schnell denken zu müssen, es belebte ihn, seine Gedanken zur Abwechslung einmal auf ungewohnte Bahnen zu lenken und immer hellwach zu sein. Drei oder vier Monate nach ihrem ersten Plausch - zu einer Zeit, als sie noch nicht einmal richtige Bekannte waren, geschweige denn Freunde oder Partner - wurde Tom klar, dass es unter allen Menschen, die er in New York kannte, niemanden gab, weder Mann noch Frau, mit dem er so offen sprach wie mit Harry Brightman.
Und doch blieb Tom standhaft bei seinem Nein. Über sechs Monate lang wehrte er das Anerbieten des Buchhändlers ab, in sein Geschäft einzusteigen, kam mit so vielen Ausreden, nannte so viele Gründe, warum Harry sich einen anderen suchen sollte, dass sein Widerstreben zum Anlass immer neuer Witze zwischen den beiden wurde. Anfangs bot Tom alle Kräfte auf, die Vorteile seiner aktuellen Beschäftigung herauszustreichen, und entwickelte komplizierte Theorien über den ontologischen Nutzen des Taxifahrens. „Das ebnet einen direkten Weg in die Formlosigkeit des Seins“, sagte er zum Beispiel und gab sich alle Mühe, nicht zu grinsen, als er den Jargon seiner akademischen Vergangenheit nachäffte, „einen großartigen Einstieg in die chaotischen Substrukturen des Universums. Man fährt die ganze Nacht in der Stadt herum, und man weiß nie, wo man als Nächstes hinkommt. Ein Kunde steigt hinten zu dir in den Wagen, sagt dir, wohin er gefahren werden will, und da fährst du hin. Riverdale, Fort Greene, Murray Hill, Far Rockaway, die erdabgewandte Seite des Mondes. All diese Ziele sind willkürlich, jede Entscheidung wird vom Zufall herbeigeführt. Du fädelst dich in den Verkehr, du steuerst das Ziel so schnell an wie möglich, aber ein Mitspracherecht hast du nie. Du bist ein Spielball der Götter, du hast keinen eigenen Willen. Du bist nur dazu da, den Launen anderer Leute zu dienen.“