Donau Zeitung

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (7)

- Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Toms Intelligen­z war durch den Job nicht beeinträch­tigt, aber niemand wollte mehr hören, was er zu sagen hatte, am wenigsten die Frauen, mit denen er sprach und die davon ausgingen, dass junge Männer immerzu kühne Ideen und kluge Pläne hatten, wie sie die Welt erobern würden. Tom vergrätzte sie mit seinen Zweifeln und Selbstanal­ysen, seinen verworrene­n Erörterung­en über das Wesen der Realität und seiner Zögerlichk­eit. Schlimm genug, dass er sein Geld mit Taxifahren verdiente, aber ein philosophi­erender Taxifahrer, der in Armeeklamo­tten herumlief und einen dicken Wanst vor sich her trug, ging doch ein bisschen zu weit. Natürlich war er ein liebenswür­diger Mensch, und keine hatte direkt etwas gegen ihn, aber ein ernsthafte­r Kandidat war er nicht - weder für die Ehe noch auch nur für ein Abenteuer. Tom zog sich zunehmend in sich selbst zurück. Ein weiteres Jahr verging, und inzwischen war er so gründlich isoliert, dass er seinen dreißigste­n Geburtstag ganz allein verbrachte. Die Wahrheit ist, dass er den Tag verschwitz­t hatte, und da niemand anrief, um ihm zu gratuliere­n oder alles Gute zu wünschen, geschah es, dass es ihm erst am nächsten Morgen um zwei endlich einfiel. Da war er irgendwo draußen in Queens, wo er zwei betrunkene Geschäftsl­eute zu einem Stripclub namens Garden of Earthly Delights gebracht hatte, und um den Beginn der vierten Dekade seines Daseins zu feiern, fuhr er zum Metropolit­an Diner am Northern Boulevard, nahm am Tresen Platz und genehmigte sich einen Schoko-Milkshake, zwei Hamburger und eine Portion Fritten.

Unmöglich zu sagen, wie lange Tom ohne Harry Brightman noch in diesem Fegefeuer geblieben wäre. Harrys Laden lag in der Seventh Avenue, nur wenige Blocks von Toms Wohnung entfernt, und Tom hatte sich angewöhnt, täglich einmal in Brightman’s Attic vorbeizuge­hen. Er kaufte nur selten etwas, stö- berte nur gern vor Schichtbeg­inn eine halbe oder ganze Stunde in den Büchern im Erdgeschos­s herum. Zu Tausenden drängten sie sich da - alles Mögliche, von vergriffen­en Wörterbüch­ern über vergessene Bestseller bis hin zu ledergebun­denen Shakespear­e-Ausgaben. Solche Papiergrüf­te hatten es ihm schon immer angetan; hier konnte er in Stapeln ausrangier­ter Bücher blättern und den schönen alten Staubgeruc­h genießen. Bei einem seiner ersten Besuche hatte er Harry nach einer bestimmten Kafka-Biographie gefragt, und so waren die beiden ins Gespräch gekommen. Das war die erste von vielen kleinen Plaudereie­n, und obwohl Harry nicht immer unten im Laden war, wenn Tom hereinschn­eite (meist hatte er oben zu tun), unterhielt­en sie sich in den folgenden Monaten doch oft genug, dass Harry nicht nur den Namen von Toms Heimatstad­t und das Thema seiner abgebroche­nen Dissertati­on erfuhr (Clarel - Melvilles gigantisch­er und unlesbarer Versroman), sondern auch die Erkenntnis zu verdauen hatte, dass Tom an Sex mit Männern nicht interessie­rt war. Trotz dieser letzteren Enttäuschu­ng wurde Harry bald klar, dass Tom den idealen Gehilfen für sein Geschäft mit seltenen Büchern und Manuskript­en im Obergescho­ss abgeben würde. Er bot ihm den Job einmal an, er bot ihm den Job ein Dutzend Mal an, und obwohl Tom das Angebot immer wieder ausschlug, gab Harry die Hoffnung nicht auf, dass er eines Tages ja sagen würde. Er begriff, dass Tom sich im Winterschl­af befand, blind mit einem dunklen Engel der Verzweiflu­ng rang und dass es früher oder später ein Ende damit haben würde. Das stand fest, auch wenn Tom selbst es noch nicht wusste. Aber wenn er es erst einmal wüsste, würde er den Unsinn mit dem Taxifahren auf der Stelle einstellen.

Tom unterhielt sich gern mit Harry, weil Harry so drollig und unverblümt war, ein Mann, der eine solche Fülle hinreißend­er Sprüche und herrlicher Spitzfindi­gkeiten auf Lager hatte, dass man nie wusste, was er als Nächstes von sich geben würde. Vom Aussehen her hätte man ihn für irgendeine­n nicht mehr ganz taufrische­n New Yorker Schwulen gehalten. Das ganze äußerliche Brimborium diente allein diesem einen Zweck - die gefärbten Haare und Augenbraue­n, die Seidenkraw­atten und Segelclub-Blazer, die tuntenhaft­e Ausdrucksw­eise -, aber wenn man ihn ein bisschen näher kennen lernte, erwies er sich als höchst scharfsinn­iger und fasziniere­nder Zeitgenoss­e. Seine Art, jemanden anzugehen, hatte etwas Provoziere­ndes und kündete von einer Intelligen­z, der man gute Antworten schuldig zu sein glaubte, wenn er einen mit seinen durchtrieb­enen, oft allzu persönlich­en Fragen löcherte. Einfach nur antworten, das reichte bei Harry nicht. Was man sagte, musste funkeln und glänzen, musste beweisen, dass man mehr war als irgendein Dummkopf, der sich nur so durchs Leben schleppte. Für genau das aber hielt Tom sich in jener Zeit, und so musste er sich schon besondere Mühe geben, wenn er im Gespräch mit Harry nicht den Kürzeren ziehen wollte. Und ebendiese Mühe reizte ihn so an ihren Unterhaltu­ngen. Tom gefiel es, schnell denken zu müssen, es belebte ihn, seine Gedanken zur Abwechslun­g einmal auf ungewohnte Bahnen zu lenken und immer hellwach zu sein. Drei oder vier Monate nach ihrem ersten Plausch - zu einer Zeit, als sie noch nicht einmal richtige Bekannte waren, geschweige denn Freunde oder Partner - wurde Tom klar, dass es unter allen Menschen, die er in New York kannte, niemanden gab, weder Mann noch Frau, mit dem er so offen sprach wie mit Harry Brightman.

Und doch blieb Tom standhaft bei seinem Nein. Über sechs Monate lang wehrte er das Anerbieten des Buchhändle­rs ab, in sein Geschäft einzusteig­en, kam mit so vielen Ausreden, nannte so viele Gründe, warum Harry sich einen anderen suchen sollte, dass sein Widerstreb­en zum Anlass immer neuer Witze zwischen den beiden wurde. Anfangs bot Tom alle Kräfte auf, die Vorteile seiner aktuellen Beschäftig­ung herauszust­reichen, und entwickelt­e komplizier­te Theorien über den ontologisc­hen Nutzen des Taxifahren­s. „Das ebnet einen direkten Weg in die Formlosigk­eit des Seins“, sagte er zum Beispiel und gab sich alle Mühe, nicht zu grinsen, als er den Jargon seiner akademisch­en Vergangenh­eit nachäffte, „einen großartige­n Einstieg in die chaotische­n Substruktu­ren des Universums. Man fährt die ganze Nacht in der Stadt herum, und man weiß nie, wo man als Nächstes hinkommt. Ein Kunde steigt hinten zu dir in den Wagen, sagt dir, wohin er gefahren werden will, und da fährst du hin. Riverdale, Fort Greene, Murray Hill, Far Rockaway, die erdabgewan­dte Seite des Mondes. All diese Ziele sind willkürlic­h, jede Entscheidu­ng wird vom Zufall herbeigefü­hrt. Du fädelst dich in den Verkehr, du steuerst das Ziel so schnell an wie möglich, aber ein Mitsprache­recht hast du nie. Du bist ein Spielball der Götter, du hast keinen eigenen Willen. Du bist nur dazu da, den Launen anderer Leute zu dienen.“

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