Erlesene Gedanken
Aufgespießt
WVON ERICH PAWLU er sich bisher einbildete, Gedanken lesen zu können, demonstrierte seine Kunst auf dem Jahrmarkt oder im Varieté. Dort ließ er Versuchspersonen über Gedanken staunen, die sich in ihren Köpfen verbargen.
Jetzt will Facebook die erlesene Gabe des Gedankenlesens an sich reißen. Mit dem Einsatz sensibler Sensoren sollen Aktivitäten in den Tiefen des menschlichen Gehirns entziffert und sofort in Textform auf Bildschirme übertragen werden.
Wir dürfen uns auf die neue schöne Welt der elektronischen Gedankenleserei schon einmal freuen. Der Bordcomputer lenkt das Auto der Zukunft auf magische Weise nach links, wenn wir „Jetzt links“denken. Der Staatsanwalt muss beim Verhör mit widerspenstigen Gesetzesbrechern nicht mehr auf mündliche Auskünfte warten, weil sein Computer die heimlichen Gedanken seines Delinquenten mühelos und in klarer Schrift anzeigt.
Schon in nächster Zeit soll Facebook fähig sein, die Gedanken eines Menschen in 100 Worte pro Minute umzusetzen. Deprimierend wird es allerdings, wenn beim Gedankenlesen einfach kein einziges Wort auf dem Bildschirm erscheinen will, weil sich in dem untersuchten Gehirn kein einziger Gedanke finden lässt. Und scheitern könnte alle Gedankenleserei auch an vielen intelligenten Frauen. Schon 1766 hat die Dichterin Anna Louisa Karsch den Gedankenlesern unserer Zeit die Prophezeiung hinterlassen: „Nie wirst du der verschmitzten Frau / Verborgenste Gedanken lesen.“