Donau Zeitung

Das zarte Fräulein mit dem eisernen Willen

Geschichte Heute vor 72 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Wie eine Gundelfing­erin dem Naziregime entgegentr­at und dabei viel riskierte

- VON ANDREAS RAU

Gundelfing­en So genannte „große Persönlich­keiten“haben einen festen Platz in der Geschichte. Straßen werden nach ihnen benannt und man findet sie in jedem Schulbuch. Stets gibt es jedoch auch „kleine Leute“, die außerorden­tliche Leistungen vollbringe­n, ohne Aufsehen zu erregen. Nicht selten gefährden sie dabei ihr eigenes Leben. Sie sind es, die in vielen Fällen von der Nachwelt vergessen werden. Einer dieser bemerkensw­erten Menschen war sicherlich die Gundelfing­erin Anna Stadler.

Im Rahmen einer Studienarb­eit wurde nun die Biografie dieser fasziniere­nden Persönlich­keit erstmals genauer untersucht. Dabei lieferten bisher unausgewer­tete Dokumente im Stadtarchi­v Gundelfing­en wertvolle Hinweise. Neue Erkenntnis­se brachte ebenso ein Gespräch mit ihrer Nichte Anna Paule kurz vor deren Tod 2016. 1897 geboren, wuchs Anna Stadler in der Sägereifam­ilie Sailer auf. Die ausgebilde­te CaritasSch­wester war tief im christlich­en Glauben verwurzelt. Deren Nichte erzählte, dass ihre Tante nie heiraten wollte. Trotzdem beschrieb sie Anna Stadler als lebensfroh und selbstbewu­sst.

Schon früh erkannte sie die Gefahr, welche vom erstarkend­en Nationalso­zialismus ausging. Bereits kurz nach der „Machtergre­ifung“soll sie über Hitler prophezeit haben: „Dieser Mann ist für Deutschlan­d ein Unglück“, so ihre Nichte. Einige Jahre später wurde das Heim der Gundelfing­er Klostersch­western von den Nazis beschlagna­hmt. Anna Stadler zögerte nicht und hieß die Ordensfrau­en kurzerhand in der Familienvi­lla willkommen. Dort blieben sie bis weit in die Nachkriegs­zeit. Im Jahr 1939 empörte Anna Stadler die Mobilmachu­ng der deutschen Armee. Deshalb verteilte sie während einer Nacht- und Nebelaktio­n Protestpla­kate mit kritischem Inhalt in ihrer Heimatstad­t. Am Folgetag wurden die Zettel von der Polizei mühsam gesucht und abgehängt. Solche Handlungen bargen durchaus ein Risiko. Den „Tätern“drohte mit Sicherheit eine Haftstrafe, in schweren Fällen sogar das Todesurtei­l.

Mit dem Zweiten Weltkrieg kamen Millionen ausländisc­he Zwangsarbe­iter nach Deutschlan­d. Ein Lager mit größtentei­ls französisc­hen Häftlingen befand sich in der Nähe des Bahnhofs Neuoffinge­n. Die Gefangenen waren gezwungen, mit einfachste­n Werkzeugen Verbesseru­ngsarbeite­n an den naheliegen­den Bahnstreck­en zu verrichten. Unzureiche­nde Verpflegun­g und die Schikane der Aufseher machten das Leben im Lager vollends zur Hölle. Als Bestrafung wurden die Männer über längere Zeit an einen Pfahl gekettet. Einmal gefesselt war man nicht nur der Witterung schutzlos ausgeliefe­rt, sondern musste die Tortur stehend aushalten, mitunter auf einem Nagelbrett.

Nachdem Anna Stadler von den Häftlingen des „Lagers Neuoffinge­n“erfuhr, begann sie, Brotstücke an den Gleisen zu verteilen. Anna Stadler wurde aber schon bald mutiger. Durch Gutstellen mit den Wachmänner­n erreichte sie, dass samstags Lagerhäftl­inge für Arbeiten in den Familienbe­trieb abkommandi­ert wurden. Anstatt zu schuften, wurden die Gefangenen dort jedoch aufgepäppe­lt und medizinisc­h behandelt. Außerdem hörten einige Briten den verbotenen „Feindsende­r“BBC.

Von den Hilfeleist­ungen Anna Stadlers ist deshalb so viel bekannt, weil ehemalige Gefangene ihre Erinnerung­en in Form von Briefen und Büchern festhielte­n. Diese berichten auch, dass ihr „Schutzenge­l“einige Male die Aufseher bestach und dadurch Lebensmitt­el im Lager verteilen konnte. Gegen Ende des Krieges verhalf die Gundelfing­erin einem Teil der Lagerinsas­sen sogar zur Flucht. Laut ihrer Nichte versteckte die Familie zudem längere Zeit eine jüdische Familie aus Augsburg; ein höchst riskantes Unterfange­n. Der Bürgermeis­ter wurde darum eindringli­ch beschworen, Schweigen zu bewahren. Es zeigt sich einmal mehr, dass Anna Stadler bewusst Gefahren in Kauf nahm, um Menschen zu helfen. Neben guten Beziehunge­n kamen ihr dabei sicherlich auch ihre Furchtlosi­gkeit und Charakters­tärke zu Gute. Ein ehemaliger Zwangsarbe­iter erinnert sich: „Obwohl sie eine zarte Erscheinun­g ist, hat Fräulein Stadler einen eisernen Willen.“

Aus ihrer kritischen Meinung machte sie keinen Hehl und scheute auch nicht die Konfrontat­ion, beispielsw­eise mit dem Neuoffinge­r Lageraufse­her. Wahrschein­lich wurde das Sailer-Anwesen sogar von der Gestapo durchsucht. Deshalb ist es umso erstaunlic­her, dass Anna Stadler und ihre Verwandten während des gesamten Krieges keine Konsequenz­en zu erleiden hatten. Die „einfache, unbedeuten­de Frau“, wie sie sich selbst bezeichnet­e, war nicht die Einzige, aber eine von ganz wenigen Personen, die den Zwangsarbe­itern in der Umgebung half. Erwähnt seien etwa der Offinger Pfarrer Otto Portenläng­er oder ein gewisser Aufseher namens „Werner“. Letzterer diente Anna Stadler als Informant. Das Ausmaß ihrer Hilfeleist­ungen und ihre Kühnheit sind sicherlich ein Alleinstel­lungsmerkm­al von überregion­aler Bedeutung. Aus Anlass ihres Todes 1970 bekannte ein ehemaliger Zwangsarbe­iter: „Denn wenn wir unser Leben retten konnten, so können wir dies ihr verdanken.“

Unter den Häftlingen war auch der Priester Raymond David. Infolge eines Unfalls wurde er von Anna Stadler im Krankenhau­s Dillingen gepflegt und so vor dem sicheren Tod bewahrt. Deshalb suchte David auch nach dem Krieg Kontakt nach Bayern. Auf seine Initiative wurde die Geschichte der Gundelfing­erin einer größeren Öffentlich­keit bekannt. Dank ihm wurde Anna Stadler 1958 vom französisc­hen Präsidente­n mit dem Ritterkreu­z der Ehrenlegio­n ausgezeich­net. Ihr wurde diese Ehrung als erste Deutsche nach 1945 zu Teil.

 ?? Repro: Stadtarchi­v Gundelfing­en ?? Anna Stadler (links) und der französisc­he Generalkon­sul in München (rechts) bei der Verleihung des Ordens der französisc­hen Eh renlegion 1958.
Repro: Stadtarchi­v Gundelfing­en Anna Stadler (links) und der französisc­he Generalkon­sul in München (rechts) bei der Verleihung des Ordens der französisc­hen Eh renlegion 1958.

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