Das zarte Fräulein mit dem eisernen Willen
Geschichte Heute vor 72 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Wie eine Gundelfingerin dem Naziregime entgegentrat und dabei viel riskierte
Gundelfingen So genannte „große Persönlichkeiten“haben einen festen Platz in der Geschichte. Straßen werden nach ihnen benannt und man findet sie in jedem Schulbuch. Stets gibt es jedoch auch „kleine Leute“, die außerordentliche Leistungen vollbringen, ohne Aufsehen zu erregen. Nicht selten gefährden sie dabei ihr eigenes Leben. Sie sind es, die in vielen Fällen von der Nachwelt vergessen werden. Einer dieser bemerkenswerten Menschen war sicherlich die Gundelfingerin Anna Stadler.
Im Rahmen einer Studienarbeit wurde nun die Biografie dieser faszinierenden Persönlichkeit erstmals genauer untersucht. Dabei lieferten bisher unausgewertete Dokumente im Stadtarchiv Gundelfingen wertvolle Hinweise. Neue Erkenntnisse brachte ebenso ein Gespräch mit ihrer Nichte Anna Paule kurz vor deren Tod 2016. 1897 geboren, wuchs Anna Stadler in der Sägereifamilie Sailer auf. Die ausgebildete CaritasSchwester war tief im christlichen Glauben verwurzelt. Deren Nichte erzählte, dass ihre Tante nie heiraten wollte. Trotzdem beschrieb sie Anna Stadler als lebensfroh und selbstbewusst.
Schon früh erkannte sie die Gefahr, welche vom erstarkenden Nationalsozialismus ausging. Bereits kurz nach der „Machtergreifung“soll sie über Hitler prophezeit haben: „Dieser Mann ist für Deutschland ein Unglück“, so ihre Nichte. Einige Jahre später wurde das Heim der Gundelfinger Klosterschwestern von den Nazis beschlagnahmt. Anna Stadler zögerte nicht und hieß die Ordensfrauen kurzerhand in der Familienvilla willkommen. Dort blieben sie bis weit in die Nachkriegszeit. Im Jahr 1939 empörte Anna Stadler die Mobilmachung der deutschen Armee. Deshalb verteilte sie während einer Nacht- und Nebelaktion Protestplakate mit kritischem Inhalt in ihrer Heimatstadt. Am Folgetag wurden die Zettel von der Polizei mühsam gesucht und abgehängt. Solche Handlungen bargen durchaus ein Risiko. Den „Tätern“drohte mit Sicherheit eine Haftstrafe, in schweren Fällen sogar das Todesurteil.
Mit dem Zweiten Weltkrieg kamen Millionen ausländische Zwangsarbeiter nach Deutschland. Ein Lager mit größtenteils französischen Häftlingen befand sich in der Nähe des Bahnhofs Neuoffingen. Die Gefangenen waren gezwungen, mit einfachsten Werkzeugen Verbesserungsarbeiten an den naheliegenden Bahnstrecken zu verrichten. Unzureichende Verpflegung und die Schikane der Aufseher machten das Leben im Lager vollends zur Hölle. Als Bestrafung wurden die Männer über längere Zeit an einen Pfahl gekettet. Einmal gefesselt war man nicht nur der Witterung schutzlos ausgeliefert, sondern musste die Tortur stehend aushalten, mitunter auf einem Nagelbrett.
Nachdem Anna Stadler von den Häftlingen des „Lagers Neuoffingen“erfuhr, begann sie, Brotstücke an den Gleisen zu verteilen. Anna Stadler wurde aber schon bald mutiger. Durch Gutstellen mit den Wachmännern erreichte sie, dass samstags Lagerhäftlinge für Arbeiten in den Familienbetrieb abkommandiert wurden. Anstatt zu schuften, wurden die Gefangenen dort jedoch aufgepäppelt und medizinisch behandelt. Außerdem hörten einige Briten den verbotenen „Feindsender“BBC.
Von den Hilfeleistungen Anna Stadlers ist deshalb so viel bekannt, weil ehemalige Gefangene ihre Erinnerungen in Form von Briefen und Büchern festhielten. Diese berichten auch, dass ihr „Schutzengel“einige Male die Aufseher bestach und dadurch Lebensmittel im Lager verteilen konnte. Gegen Ende des Krieges verhalf die Gundelfingerin einem Teil der Lagerinsassen sogar zur Flucht. Laut ihrer Nichte versteckte die Familie zudem längere Zeit eine jüdische Familie aus Augsburg; ein höchst riskantes Unterfangen. Der Bürgermeister wurde darum eindringlich beschworen, Schweigen zu bewahren. Es zeigt sich einmal mehr, dass Anna Stadler bewusst Gefahren in Kauf nahm, um Menschen zu helfen. Neben guten Beziehungen kamen ihr dabei sicherlich auch ihre Furchtlosigkeit und Charakterstärke zu Gute. Ein ehemaliger Zwangsarbeiter erinnert sich: „Obwohl sie eine zarte Erscheinung ist, hat Fräulein Stadler einen eisernen Willen.“
Aus ihrer kritischen Meinung machte sie keinen Hehl und scheute auch nicht die Konfrontation, beispielsweise mit dem Neuoffinger Lageraufseher. Wahrscheinlich wurde das Sailer-Anwesen sogar von der Gestapo durchsucht. Deshalb ist es umso erstaunlicher, dass Anna Stadler und ihre Verwandten während des gesamten Krieges keine Konsequenzen zu erleiden hatten. Die „einfache, unbedeutende Frau“, wie sie sich selbst bezeichnete, war nicht die Einzige, aber eine von ganz wenigen Personen, die den Zwangsarbeitern in der Umgebung half. Erwähnt seien etwa der Offinger Pfarrer Otto Portenlänger oder ein gewisser Aufseher namens „Werner“. Letzterer diente Anna Stadler als Informant. Das Ausmaß ihrer Hilfeleistungen und ihre Kühnheit sind sicherlich ein Alleinstellungsmerkmal von überregionaler Bedeutung. Aus Anlass ihres Todes 1970 bekannte ein ehemaliger Zwangsarbeiter: „Denn wenn wir unser Leben retten konnten, so können wir dies ihr verdanken.“
Unter den Häftlingen war auch der Priester Raymond David. Infolge eines Unfalls wurde er von Anna Stadler im Krankenhaus Dillingen gepflegt und so vor dem sicheren Tod bewahrt. Deshalb suchte David auch nach dem Krieg Kontakt nach Bayern. Auf seine Initiative wurde die Geschichte der Gundelfingerin einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Dank ihm wurde Anna Stadler 1958 vom französischen Präsidenten mit dem Ritterkreuz der Ehrenlegion ausgezeichnet. Ihr wurde diese Ehrung als erste Deutsche nach 1945 zu Teil.