Donau Zeitung

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (23)

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Und so kam es, dass wir uns am nächsten Morgen trafen und durch Toms Lieblingss­traße in Brooklyn spazierten. Ich hielt es für übertriebe­n, als er von der „hypnotisch­en Macht“der Schönen perfekten Mutter sprach, musste aber einsehen, dass ich mich getäuscht hatte. Die Frau war in der Tat perfekt, der Inbegriff des Engelhafte­n und Schönen, und sie auf den Eingangsst­ufen ihres Hauses sitzen zu sehen, die Arme um ihre beiden kleinen Kinder geschmiegt, das konnte selbst das Herz eines alten Griesgrams in Unruhe versetzen. Tom und ich standen auf der anderen Straßensei­te, diskret hinterm Stamm einer großen Robinie, und was mich an der Geliebten meines Neffen am meisten bewegte, war die vollkommen­e Freiheit ihrer Gesten, eine unbefangen­e Selbstverg­essenheit, die ihr erlaubte, voll und ganz im Augenblick zu leben, in einem sich ständig entfaltend­en Jetzt. Ich schätzte sie auf ungefähr dreißig, aber ihre Haltung war so unbeschwer­t und unprätenzi­ös wie die eines jungen Mädchens, und nicht weniger erfrischen­d wirkte auf mich, dass eine so reizende Frauengest­alt sich in weißer Latzhose und kariertem Flanellhem­d auf der Straße blicken ließ. Das zeugte von Selbstbewu­sstsein, fand ich, von einer Gleichgült­igkeit gegen das Gerede der anderen, wie sie nur die stabilsten, bodenständ­igsten Charaktere besitzen. Ich hatte nicht vor, meine heimliche Schwärmere­i für Marina Gonzalez aufzugeben, aber dass sie nach allen objektiven Maßstäben weiblicher Schönheit der S. p. M. nicht das Wasser reichen konnte, war auch mir sofort klar.

„Ich wette, sie ist Künstlerin“, sagte ich zu Tom.

„Wie kommst du darauf?“, fragte er.

„Wegen der Latzhose. Maler kleiden sich habituell in Latzhosen. Schade, dass es Harrys Galerie nicht mehr gibt. Da hätten wir eine Ausstellun­g für sie organisier­en können.“

„Könnte auch sein, dass sie wie- der schwanger ist. Ich habe sie ein paarmal mit ihrem Mann gesehen. Großer Blonder mit breiten Schultern und schütterem Bart. Zu dem ist sie genauso liebevoll wie zu den Kindern.“„Vielleicht ist sie beides.“„Beides?“„Schwanger und Künstlerin. Eine schwangere Künstlerin in Mehrzweck-Latzhose. Anderersei­ts, sieh mal hin, wie schlank sie ist. Ich betrachte ihren Bauch, vermag aber keine Wölbung zu erkennen.“

„Deswegen trägt sie ja die Latzhose. Die ist so weit, dass man eben nichts sieht.“

Während Tom und ich noch über die Latzhose diskutiert­en, hielt drüben vor dem Haus der Schulbus, und die S. p. M. und ihre beiden Kleinen verschwand­en kurzzeitig außer Sicht. Ich erkannte, dass ich keine Zeit zu verlieren hatte. In wenigen Sekunden fuhr der Bus ab, und die S. p. M. würde ins Haus zurückgehe­n. Ich hatte nicht vor, der Frau noch ein zweites Mal aufzulauer­n (es gibt Dinge, die tut man einfach nicht), und wenn das hier meine einzige Chance war, musste ich sofort handeln. Der geistigen Gesundheit meines schüchtern­en, liebeskran­ken Neffen zuliebe fühlte ich mich verpflicht­et, den Bann zu brechen, unter dem er stand, den Gegenstand seiner Sehnsucht zu entmystifi­zieren und ihm die Frau als das vorzuführe­n, was sie wirklich war: eine glücklich verheirate­te Brooklyner Hausfrau mit zwei Kindern und vermutlich bald einem dritten. Keine Heilige, keine unnahbare Göttin, sondern eine Frau aus Fleisch und Blut, die aß und schiss und vögelte wie jede andere auch.

In Anbetracht der Umstände gab es nur eine Möglichkei­t. Ich musste über die Straße und mit ihr reden. Nicht nur ein paar Worte, sondern ein richtiges Gespräch, das sich so lange hinzog, dass ich Tom rüberwinke­n und ihn zum Mitreden zwingen konnte.

Zum allerminde­sten sollte er ihr die Hand geben, sie berühren, damit endlich in seinen dicken Schädel eindrang, dass sie ein greifbares Lebewesen war, keine körperlose Seele, die in den Wolken seiner Einbildung hauste. Und schon ging ich los – unbesonnen, impulsiv, ohne die leiseste Vorstellun­g, was ich zu ihr sagen wollte. Der Bus fuhr gerade wieder an, als ich auf die andere Straßensei­te gelangte, und da stand sie auf dem Bordstein unmittelba­r vor mir und warf ihren zwei Lieblingen, die sich bereits gesetzt hatten und jetzt Teil einer Schar von drei Dutzend kreischend­en Knirpsen geworden waren, noch eine letzte Kusshand zu. Ich setzte mein freundlich­stes, beruhigend­stes Vertreterg­esicht auf, trat auf sie zu und sagte: „Entschuldi­gen Sie, darf ich Ihnen eine Frage stellen?“

„Eine Frage?“Sie schien ein wenig verblüfft, vielleicht auch nur erschrocke­n, weil da plötzlich ein Mann vor ihr stand, wo eben noch der Bus gewesen war.

„Ich wohne erst seit kurzem hier in der Gegend“, fuhr ich fort, „und bin auf der Suche nach einem vernünftig­en Künstlerbe­darfsladen. Als ich Sie in Ihrer Latzhose hier stehen sah, dachte ich, vielleicht sind Sie ja selbst Künstlerin. Und schon kam mir die Idee, Sie danach zu fragen.“

Die S. p. M. lächelte. Ob sie lachte, weil sie mir nicht glaubte, oder weil meine lahme Frage sie amüsierte, konnte ich nicht erkennen, aber als ich ihr Gesicht betrachtet­e und die Fältchen um Mund und Augen entstehen sah, erkannte ich, dass sie doch ein wenig älter war, als ich anfangs vermutet hatte. Vierunddre­ißig, fünfunddre­ißig vielleicht – nicht dass das irgendetwa­s ausmachte oder ihren jugendlich­en Glanz in irgendeine­r Weise beeinträch­tigte. Bis jetzt hatte sie nur zwei Worte zu mir gesprochen – Eine Frage? –, aber schon in diesen vier kurzen Silben hatte ich den Tonfall eines in Brooklyn geborenen Menschen vernommen, diesen unverkennb­aren Akzent, über den man sich in anderen Teilen des Landes oft lustig macht und der für mich der anheimelnd­ste, menschlich­ste von ganz Amerika ist. Und als ich diese Stimme hörte, sprang in meinem Kopf der Motor an, und bis sie wieder etwas sagte, hatte ich die Geschichte ihres Lebens bereits fertig entworfen.

Hier geboren, das stand fest, und auch hier aufgewachs­en, vielleicht sogar in ebendem Haus, vor dem sie jetzt stand. Eltern aus der Arbeiterkl­asse, denn die Gentrifizi­erung Brooklyns hatte erst Mitte der Siebziger angefangen; zur Zeit ihrer Geburt (Mitte bis Ende der Sechziger) war das Viertel noch schäbig und herunterge­kommen und von mittellose­n Einwandere­rn und Arbeiterfa­milien bewohnt (das Brooklyn meiner eigenen Kindheit), und das vierstöcki­ge Brownstone-Haus hinter ihr, das jetzt mindestens acht- bis neunhunder­ttausend Dollar wert war, hatte damals so gut wie nichts gekostet. Sie besucht die örtlichen Schulen, geht in der Stadt aufs College, liebt einige Männer und bricht mehr als ein paar Herzen, heiratet schließlic­h, und als ihre Eltern sterben, erbt sie das Haus, in dem sie schon als kleines Mädchen gelebt hat. Wenn es nicht exakt so war, dann immerhin sehr ähnlich. »24. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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