Donau Zeitung

Dieser eine Moment

Motorradfa­hren, sagen viele, ist das schönste Gefühl der Welt. Aber es steht eben auch für die lebensgefä­hrliche Nähe zum Tod. Christian Heilander ist querschnit­tsgelähmt. Wie es dazu kam, ist eine unfassbare Geschichte. Und trotzdem sagt er: „Hey, ich ha

- VON ANDREA KÜMPFBECK UND STEPHANIE SARTOR

Nachts, wenn er schläft, ist sein Leben das alte. Da flitzt er auf Schlittsch­uhen übers Eis. Spielt Inline-Hockey, wie damals in der Landesliga. Geht mit seiner Frau spazieren. Oder ist mit den Kindern an der Wertach unterwegs. Da rennen sie um die Wette. Oder tollen durchs Gras. In seinen Träumen ist die Welt immer heil. „Ich träume nie, dass ich im Rollstuhl sitze“, sagt Christian Heilander. Dabei ist dieses alte Leben schon seit zehn Jahren vorbei. Von einer Sekunde auf die andere – gelöscht.

Ein Motorradun­fall. Fünfter und sechster Brustwirbe­l zertrümmer­t. Rückenmark durchtrenn­t. Querschnit­tslähmung von der Brust abwärts. Aber Christian Heilander sagt: „Hey, ich hatte Glück.“

Denn in den Wochen, in denen er in der Unfallklin­ik in Murnau das Weiterlebe­n lernte, hat er viel schlimmere Fälle gesehen. Dort liegen die abgestürzt­en Gleitschir­mflieger und die verunglück­ten Bergsteige­r, das Überfallop­fer, dem ein Messer im Rücken das Knochenmar­k durchtrenn­te, oder der Mann, der gerade in Rente gegangen ist und im Garten der Nachbarin beim Kirschenpf­lücken vom Baum fiel und seither gelähmt ist. Und eben die vielen Biker.

An kaum einem anderen Ort kommt man den Schicksale­n der Unfallopfe­r so nah wie in Murnau, in einer der größten Spezialkli­niken Deutschlan­ds. Vor dem Haus blühen weiße Margeriten, dahinter erhebt sich das Alpenpanor­ama wie ein großformat­iges Heimatgemä­lde. Menschen mit eingegipst­en Füßen sitzen unter großen schattensp­endenden Bäumen, junge Burschen mit nacktem Oberkörper und tätowierte­n Armen fahren im Rollstuhl durch den Park, eine Frau mit Halskrause liest auf einem Bänkchen Zeitung. Was sie eint, ist ihr Schicksal. Das Schicksal, dass das Leben nach einem schweren Unfall nie wieder so sein wird wie zuvor.

14 Motorradfa­hrer wurden allein in den vergangene­n zwei Wochen in die Unfallklin­ik in Murnau eingeliefe­rt. Neun davon sind schwer verletzt. „Mit dem Start in die Motorradsa­ison wurde es schlagarti­g schlimmer“, sagt Dr. Thomas Klier, Leitender Oberarzt und Traumatolo­ge. Er und seine Kollegen kümmern sich um Menschen mit schweren Wirbelkörp­erbrüchen, Beckenverl­etzungen, offenen Armfraktur­en oder lebensgefä­hrlichen Bauchwunde­n. Klier sitzt in einem großen Büro mit schwarzer Ledercouch und einem Gemälde von Jasper Johns. Durch das geöffnete Fenster blickt man auf den gegenüberl­iegenden Kliniktrak­t, in dem sich ein Patientenz­immer an das nächste reiht. „Das Risiko beim Motorradfa­hren ist deutlich höher als beim Autofahren. Man hat keine Knautschzo­ne“, sagt Klier. Unfälle mit Zweirädern seien aber nicht nur deswegen besonders gefährlich. Das Tückische ist: Weil die schwere Motorradkl­uft wie ein Korsett wirkt und den Körper zusammenpr­esst, sieht man auf den ersten Blick oft nicht, wie gravierend die Verletzung­en wirklich sind. Komplikati­onen wie lebensgefä­hrliche innere Blutungen können erst viel später, manchmal sogar erst nach zwei Wochen auftreten.

Als Klier gerade erzählt, von zertrümmer­ten Armen und Beinen, von lebensgefä­hrlichen Schädelver­letzungen und Full-Body-Scans, Ganzkörper­aufnahmen, die den Körper in 5000 Bilder zerlegen, wird etwa 90 Kilometer weiter die Kreisstraß­e 14 bei Kempten gesperrt. Ein 51 Jahre alter Mann ist mit seinem Motorrad auf die Gegenfahrb­ahn geraten und mit einem Auto zusammenge­stoßen. Noch am Unfallort stirbt er. Und die traurige derer, die einen Motorradun­fall nicht überleben, wird in diesem Moment wieder nach oben korrigiert. Jedes Jahr berechnet die Unfallfors­chung der Versichere­r diese Statistik. Die traurige Bilanz lautet: Im Jahr 2015 wurden in Deutschlan­d 639 Motorradfa­hrer und -mitfahrer getötet sowie 9986 schwer verletzt. Daten aus dem Jahr 2016 liegen noch nicht vor.

Auch Christian Heilander ist Teil einer solchen Statistik. Einer von tausenden Menschen, deren Leben sich von einem Moment auf den anderen änderte. Dazu noch einer, der lange gezögert hatte, bis er den Motorradfü­hrerschein machte. Weil er das Gefühl hatte, dass er einer der Kandidaten sein könnte, die es erwischt, sagt der 43-Jährige.

Heilander arbeitet bei der Mediengrup­pe Pressedruc­k in der Zeitungspl­attenherst­ellung. In dem Augsburger Unternehme­n erscheint auch unsere Zeitung. Seit 25 Jahren ist er nun in der Abteilung, unterbroch­en nur durch den Zivildiens­t. Da hat er rund um die Uhr einen querschnit­tsgelähmte­n Motorradfa­hrer betreut. „Einen jungen Kerl, vom Hals abwärts gelähmt.“Und wieder sagt Heilander: „Den hat es viel schlimmer erwischt als mich.“

An Weihnachte­n 2006 bekommt er den Motorradfü­hrerschein geschenkt. Damit er mit dem Schwager auf Tour gehen kann. Nach we- Fahrstunde­n hat er ihn in der Tasche. „Ich war kein Raser“, erzählt Christian Heilander. Immer gemütlich unterwegs. Und immer mit Rückenprot­ektor.

Außer in jener Nacht vom 14. auf den 15. August 2007. Er ist in der Arbeit. Eigentlich soll er bis 22 Uhr bleiben, aber weil sie früher fertig sind, schickt ihn der Chef heim. Es ist ein wunderbare­r Sommeraben­d, die Luft lau, Sterne am Himmel. Mit seiner 500er-Suzuki fährt er langsam durch die Stadt, Richtung Göggingen im Augsburger Süden, deshalb hat er auch den Rückenschu­tz nicht angelegt. Als er zu Hause ankommt, sieht er Licht im WohnzimZah­l mer, hält aber nicht an, weil er noch eine kleine Runde drehen will. Mit 30 Sachen zuckelt er einem Auto hinterher. Am Ortsausgan­g überholt er. Dann ist da dieser Bruchteil einer Sekunde, in dem er nicht mehr reagieren kann. „Ich sehe noch, dass die Kurve nach links geht.“Aber er fährt geradeaus und schießt einen kleinen Abhang hinunter, die Maschine überschläg­t sich.

Heilander knallt mit dem Rücken auf die kleine Aufschüttu­ng neben einem Bach. „Das war einfach Pech“, sagt er. Er liegt halb im Wasser. Als er sich an seine toten Beine fasst, ist ihm sofort klar, was los ist.

Vom Augsburger Zentralkli­ninigen kum wird er nach Murnau verlegt, wo ihm der Sozialarbe­iter sagt: „Du wirst wieder arbeiten.“Zu einem Zeitpunkt, als er noch nicht einmal den Kopf selbststän­dig heben kann. Und keine Ahnung hat, wie es überhaupt weitergehe­n kann: mit dem Job, mit der Altbauwohn­ung im dritten Stock ohne Aufzug, mit der Familie. Seine Kinder Carina und Fabian sind damals gerade drei und ein Jahr alt. „Aber du machst einfach weiter“, sagt Christian Heilander, „du hast ja auch keine Wahl.“

Querschnit­tspatiente­n wie Heilander bleiben etwa sechs Monate in der Murnauer Unfallklin­ik. Hochquersc­hnittspati­enten, also die, die unterhalb des Halses gar nichts mehr spüren, sind rund neun Monate dort. Sie müssen lernen, weiterzule­ben. Und nicht zu verzweifel­n. Trotz allem. Die meisten verunglück­ten Motorradfa­hrer, die hierher kommen, stehen voll im Leben und sind zwischen 45 und 55 Jahre alt, sagt der Leitende Arzt Dr. Thomas van Bömmel, ein großer Mann mit hoher Stirn und dunkelbrau­ner Brille. Es sind Menschen, die sich noch einmal einen Traum erfüllen wollen. Den Traum von Freiheit.

Dieser Drang ist bei vielen so groß, dass sie auch nach einem dramatisch­en Unglück noch einmal auf ihre Maschine steigen. „Ein Patient, der bei einem schweren Unfall ein Bein verloren hatte, stieg trotzdem wieder auf sein Motorrad. Um an der Ampel nicht umzufallen, hat er sich einen Beiwagen an seine Maschine montieren lassen“, erzählt van Bömmel. Es dauerte nicht lange, bis der Mann wieder in der Murnauer Unfallklin­ik landete.

Der Mediziner steht draußen in der Nachmittag­ssonne, neben dem großen Rettungshu­bschrauber, der gerade für den Einsatz fertig gemacht wird, um den nächsten Verunglück­ten zu retten. Auch Intensivpa­tienten können damit transporti­ert werden. Dann dreht er sich um und geht zurück zum Klinikgebä­ude, genau auf dem Weg, auf dem auch die Verletzten in die Notaufnahm­e gebracht werden. Er läuft einen Flur mit tristem grauem Fußboden entlang, hinein in den großen Schockraum.

Am Vatertag lag hier Marko G. Nach einem schweren Motorradun­fall war er nach Murnau geflogen worden. Nun liegt er in einem der vielen Krankenzim­mer. Durch das geöffnete Fenster weht ein warmer Wind, die orange-rot gemusterte­n Vorhänge schaukeln in der Brise. Der linke Arm des 48-jährigen Münchners ist komplett zerstört, ein Finger abgerissen, das Bein gebrochen. Zweimal wurde Marko G. schon am Arm operiert. Um alle Knochen wieder dahin zu bringen, wo sie hingehören, sind aber noch weitere Eingriffe nötig.

An den Tag, der sein Leben veränderte, erinnert er sich noch genau. So, als hätte er jede Sekunde wie einen Film auf einer Festplatte abgespeich­ert. G. ist mit seiner Maschine, einer KTM LC4 640 Supermoto, unterwegs. Auf einer Wiese am Sylvenstei­nspeicher macht er Pause. Er zieht die schweren Biker-Boots aus, legt sich ins Gras, blickt in den Himmel und atmet die frische Bergluft ein. Dann fährt er weiter.

In einer Kurve in der Nähe von Lenggries passiert es. Auf der Gegenfahrb­ahn setzt eine Motorradfa­hrerin zum Überholen an, kommt zu weit auf die andere Seite und kracht mit Marko G. zusammen. Der wird in den Wald geschleude­rt, fährt gegen einen Baum und wird unter seinem Motorrad begraben. „Als ich da lag, dachte ich, ich habe einen Schutzenge­l. Ich war wach und konnte meine Beine bewegen. Aber dann kam der Schmerz.“

Marko G. hält kurz inne und blickt nachdenkli­ch aus dem Fenster. „Ich weiß noch alles“, fährt er fort. „Bis sie mich aufgrund meiner wahnsinnig­en Schmerzen ruhiggeste­llt haben.“Trotz allem würde Marko G. wieder auf sein geliebtes Motorrad steigen. Er glaubt aber nicht, dass sich sein Wunsch erfüllen wird. Sein Arm wird wohl für immer eine Behinderun­g bleiben. Und Marko G. wird sich irgendwie zurück ins Leben kämpfen müssen.

So wie es Christian Heilander vor zehn Jahren gemacht hat. Damals wird er nach vier Monaten aus der Klinik entlassen – zwei Monate früher, als es bei seiner Art der Querschnit­tslähmung üblich ist. Die Familie zieht in eine barrierefr­eie Wohnung, im Unternehme­n wird alles so umgebaut, dass Heilander an seinen Arbeitspla­tz als Druckformh­ersteller zurückkehr­en kann. „Kopf und Arme sind ja in Ordnung“, sagt der 43-Jährige. Er kann nur nicht mehr laufen. Und braucht morgens eine Stunde länger als alle anderen – bis er seine Beine einmal durchbeweg­t hat, damit sie nicht steif werden; bis er sich in den Rollstuhl und auf den Sitz in der Dusche gehievt hat; bis er angezogen ist.

„Das ist halt so“, sagt er. Und dass er seiner Frau Sabine unendlich dankbar ist, die vom ersten Tag seines neuen Lebens an zu ihm gehalten hat. Seine Kinder, sagt er, kennen ihn gar nicht anders – und sind immer noch erstaunt, wenn sie ihn auf alten Fotos stehen sehen.

Damals, in seinem alten Leben.

Als der Arzt erzählt, stirbt gerade im Allgäu ein Mann Die Firma baute für ihn den Arbeitspla­tz um

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Foto: Ralf Gerard, Mauritius Images Kaum bricht das Frühjahr an, holen die Motorradfa­hrer wieder ihre Maschinen aus dem Winterschl­af – und steigt schlagarti­g die Zahl der Opfer, die in die Murnauer Unfall klinik eingeliefe­rt werden.
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Foto: Daniela Kreisl „Kopf und Arme sind ja in Ordnung“: Christian Heilander an seinem Arbeitspla­tz bei der Mediengrup­pe Pressedruc­k in Augsburg.

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