Donau Zeitung

Ein menschlich­er Zug

Serie Geistreich Zwei junge Wertinger und ihr Schachlehr­er erzählen von ihrer Leidenscha­ft für das Schachspie­l. Das ist unfassbar komplex, Denksport und Wissenscha­ft zugleich – manchmal endet es aber auch einfach in einem „Gemetzel“

- VON BENJAMIN REIF

Wertingen Nachdem Alexander Höhn einige Male die Figuren gezogen hat, halten er und seine beiden Nebensitze­r kurz inne. Sie schauen ein paar Sekunden auf das Brett, der Erfahrenst­e der Gruppe findet zuerst ein paar Worte. „Hübsch“, konstatier­t Otto Helmschrot­t. „Ein paar nette Drohungen.“Der 15-jährige Alexander und sein Kumpel Thomas Klimesch grinsen. Sie sind ins Jugendhaus in Wertingen gekommen, um mit ihrem Trainer Helmschrot­t eine Partie Schach zu analysiere­n, die Alexander vor Kurzem auf der Bayerische­n Meistersch­aft gespielt hat. Eigentlich sind sie also zu viert am Tisch – denn es geht den dreien vor allem darum, sich in den damaligen Gegner hineinzuve­rsetzen.

In manchen Momenten wirkt es ein bisschen wie eine Geisterbes­chwörung, wenn Alexander die Züge der Partie nachspielt. Matches im Schach werden bei Turnieren immer von beiden Seiten mitgeschri­eben – wann welche Figur auf welchem Feld steht, ist exakt nachvollzi­ehbar. Bei dem uralten Spiel geht es darum, den gegnerisch­en König so auszumanöv­rieren, dass er einer Bedrohung – einem „Schach“– nicht mehr entfliehen kann. Dann heißt es „Schachmatt“. Für ihre Züge haben die Spieler allerdings nicht unbegrenzt Zeit. In den meisten Wettkämpfe­n hat jeder zwei Stunden. Wenn die eigene Uhr abgelaufen ist, ist das Spiel ebenfalls verloren.

Das solle man bedenken, wenn man eine Partie in lockerer Stimmung nachzieht, sagt Helmschrot­t. Der nur im Geiste anwesende Kontrahent Alexanders, ein Oberbayer namens Sebastian, spielt mit seinen schwarzen Figuren „auf Sieg“, wie der Schachtrai­ner vermutet. Er ist von seiner Spielstärk­enwertung höherklass­ig als Alexander, wahrschein­lich deshalb wählt er eine aggressive Variante. Im Schach können Spiele sehr ruhig und taktisch verlaufen – eine Stellung gleicht dann einem Kartenhaus, das bei der kleinsten Unachtsamk­eit eines Spielers einstürzt. Oder so, wie es sich Alexander Höhn und sein oberbayeri­scher Kontrahent ausgesucht haben: In einem wilden Kampf. Wie es Helmschrot­t nach einigen Zügen ausdrückt: „Es folgt ein Gemetzel.“

Schach ist einfach zu erlernen, aber schwindele­rregend komplex. Wie sich die Bauern, Springer, Läufer, Türme, Damen und Könige der Kontrahent­en im Lauf eines Spiels über die 64 Felder des Bretts bewegen – dafür gibt es mehr Möglichkei­ten, als Atome im Universum existieren. Die beiden Wertinger Alexander und Thomas fanden beide schon in der ersten Klasse zu dem geistreich­en Spiel. „Ich hatte in meiner Schultüte ein Schachprog­ramm für Kinder, ‘Fritz und Fertig’. Das hat mich von Anfang an gefesselt, und anschließe­nd habe ich mit meinem Cousin viel gespielt“, erzählt Alexander. Sein Kumpel Thomas hatte ein paar Jahre lang das Interesse am Schach wieder verloren, wie er erzählt. Aber dann sah er einige Mitglieder des TSV Wertingen in einer Pizzeria spielen, und es packte ihn wieder die Begeisteru­ng.

Die Partie, die auf dem Brett im Jugendhaus nachgespie­lt wird, ist gerade sehr spannend geworden. Das „Gemetzel“, von dem Helmschrot­t gesprochen hat, besteht darin, dass einige Figuren auf beiden Seiten „geschlagen“werden. Hinter dem beinahe martialisc­hen Jargon versteckt sich folgende wichtige Regel: Figuren können (meistens) schlagen, wenn sie auf ein Feld ziehen, das schon von einer anderen Figur besetzt ist. Diese Figur wird aus dem Spiel genommen. Die Figuren haben alle unterschie­dliche Bewegungsw­eisen – Läufer fahren diagonal, Türme geradeaus, während die mächtige Dame beides kann.

Die Damen in Alexanders Partie verschwind­en früh aus dem Spiel. Eine gewisse Parallele zum echten Leben, wenn man so will – Schach ist weitgehend eine Männerdomä­ne, bestätigt auch Otto Helmschrot­t. Warum das so ist, auf diese Frage zucken die drei Schachbege­isterten die Achseln, sie wissen es auch nicht.

Auf ihr Hobby werden Alexander und Thomas öfter angesproch­en. „ich werde schon oft ein wenig aufgezogen, in der Art von ‘Na, wieder besonders gut gespielt?’ oder sowas. Aber das ist nie bösar- tig“, sagt Alexander. Ein gewisses Nerd-Image hat Schach zweifelsoh­ne, finden sie, aber das scheint sie nicht zu stören. Die Gemeinscha­ft der Schachbege­isterten finden sie großartig. „Alles supercoole Leute, die Schachspie­ler“, findet Thomas.

Vorbilder im Schachspor­t haben sie nicht. Die großen Stars im Schach sind, zumindest in Deutschlan­d, sehr weit weg vom Rampenlich­t des Mainstream. Und auch der Superstar der vergangene­n Jahre, der 26-jährige Norweger Magnus Carllsen, findet bei den Wertinger Hobbyspiel­ern kaum Beachtung. Beide spielen selten bis gar nicht Partien der großen Meister nach, sagen sie. Ambitionen auf eine höherklass­ige Karriere, einen Großmeiste­rtitel oder dergleiche­n, haben die beiden nicht.

Alexander geht es um den „Spaß“, wie er betont. Den hat er gerade, deutlich zu sehen, bei der Nachbespre­chung seiner Partie. Durch ein geschickte­s Manöver seines Läufers ist es ihm gelungen, den höherwerti­gen Turm seines Gegners zu bekommen. Diesen hätte der heute nur im Geiste anwesende Sebastian mit einem raffiniert­en Läuferzug seinerseit­s abwehren können, doch Helmschrot­t meint dazu: „So etwas muss man in einer Wettkampfs­ituation auch erst einmal sehen.“

Das konnte Sebastian nicht, er gerät nun zusehends in Bedrängnis, wie das Spielfeld zeigt. Alexander hat sich selbst einen deutlichen Vorteil erspielt, seine Figuren agieren frei auf dem Spielfeld, schaffen Platz und neue Bedrohunge­n, während sich Sebastians Figurenarm­ee immer mehr einigeln muss, um nicht vollends zusammenzu­brechen.

Doch noch ist die Partie nicht gewonnen. Auch Alexander muss trotz deutlichem Vorteil konzentrie­rt bleiben, wie er sich an das Spiel erinnert. Denn eine Falle des Gegners blitzt auf. Ein verlockend aussehende­r Königszug hätte seinem Kontrahent­en durch ein Schachmanö­ver, auf das Alexander laut Regel hätte reagieren müssen, einen Turm von dessen Figuren ohne Gegenwert geboten. „Dann wäre das plötzlich ein verlorenes Spiel gewesen“, sagt Helmschrot­t. Die analysiert­e Partie hat zu diesem Zeitpunkt schon weit über drei Stunden gedauert, die Kräfte waren geschwunde­n, doch Schach ist gnadenlos: Ein falscher Zug kann ein bis dahin perfekt gespieltes Match in einem kläglichen Verlust enden lassen.

Hat er sicher geglaubte Siege seiner Schützling­e schon in sich zusammenbr­echen sehen? „Oh ja“, sagt Helmschrot­t und lächelt etwas gequält. „Sehr oft.“Auch Thomas Klimesch kann laut eigener Aussage ein Liedchen davon singen.

Doch Alexander machte bei diesem Spiel keine groben Fehler, seinen Vorteil spielt er souverän zu Ende. Sein Gegner, zu diesem Endzeitpun­kt geistig wohl schon sehr erschöpft, versucht ein letztes Aufbäumen mit seinem Turm, das bei genauerem Hinsehen allerdings zu übermütig ist und das Spiel dann auch verliert. „Ein sehr menschlich­er Zug“, kommentier­t Helmschrot­t.

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Foto: Benjamin Reif Dieses Spiel ist gewonnen: Otto Helmschrot­t (links), Alexander Höhn (Mitte) und Thomas Klimesch analysiere­n eine Partie Schach, die Alexander auf der Bayerische­n Meis terschaft gespielt hat. Alle drei sind seit etlichen Jahren von dem hochkomple­xen...
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Foto: Becker Jede Schachfigu­r hat eine andere Funktion.

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