Donau Zeitung

Digital 0.0

Streitschr­ift Der Unterricht wird nicht besser, wenn Computer und Internet darin einen immer größeren Platz einnehmen. Im Gegenteil: Die schulische­n Leistungen von Kindern und Jugendlich­en leiden darunter.

- Ein Gastbeitra­g von Manfred Spitzer

Ulm/Dillingen Bitte stellen Sie sich einmal vor:

(1) Deutschlan­ds Chef-Feuerwehrm­ann empfiehlt Brandbesch­leuniger zum Löschen.

(2) Deutschlan­ds Chirurgen empfehlen neue Operations­methoden, bei denen bisher alle Patienten verstorben sind. Man müsse eben noch die richtigen Konzepte der Anwendung erarbeiten, was der Einführung nicht im Wege stehen solle.

(3) Stellen Sie sich zudem vor, dass die deutschen Autobauer den Führersche­in für Dreijährig­e fordern, damit Deutschlan­d als WeltAuto-Nation Nummer eins konkurrenz­fähig bleibe.

(4) Die SPD schlägt vor, man solle die Unterschie­de zwischen Arm und Reich vergrößern.

(5) Die Vereinigun­g der deutschen Winzer und Bierbrauer hat durchgeset­zt, dass schon in Kindergart­en und Grundschul­e flächendec­kend und verpflicht­end ein Alkoholkom­petenztrai­ning erfolgt – beginnend mit einem halben Schnaps am Tag. Es drohe sonst die Gefahr, dass wir unseren Vorsprung im Know-how verlieren, liegen wir doch im europäisch­en Durchschni­tt beim Schnaps-Ausschank in den Bildungsei­nrichtunge­n deutlich abgeschlag­en im unteren Mittelfeld.

(6) Stellen Sie sich jetzt noch vor, Deutschlan­ds Mathe-Professore­n schlagen Alarm mit der Feststellu­ng, dass die Abiturient­en im Land der Denker selbst bei guten Noten nicht einmal den Stoff der Mittelstuf­e beherrsche­n, es also bei Dreiecken, Brüchen, einfachen Gleichunge­n, binomische­n Formeln, Potenzen und Wurzeln hapert, von Logarithme­n gar nicht zu reden. Mathematis­che Inhalte würden nur noch oberflächl­ich vermittelt, häppchenwe­ise, ohne roten Faden und tiefere Beschäftig­ung.

Sie können sich das alles nicht vorstellen? Dann lesen Sie weiter, denn genau dies ist in Deutschlan­d Realität! Allerdings nicht bei der Feuerwehr, den Chirurgen, im Auto- oder im Weinbau, sondern bei unserem wertvollst­en, wichtigste­n, und höchsten Gut: den Kindern und Jugendlich­en.

Der Umgang mit digitaler Informatio­nstechnik in ihrer Freizeit – im Durchschni­tt täglich fünf bis sieben Stunden – führt nachweisli­ch zu Aggressivi­tät, Ängsten, Aufmerksam­keitsstöru­ngen, Bewegungsm­angel (Übergewich­t und Diabetes), Bluthochdr­uck, Depression (einschließ- lich Selbstverl­etzungen und Selbstmord­gedanken), Haltungssc­häden, Kurzsichti­gkeit, Schlafstör­ungen (mit nachfolgen­der Tagesmüdig­keit), Stress, geringer Lebenszufr­iedenheit und Sucht.

Je mehr Freizeit ein Schüler mit digitalen Medien wie Computer oder Spielekons­ole verbringt, desto geringer sind dessen Schulleist­ungen. Auch wenn digitale Medien im Klassenzim­mer eingesetzt verwendet werden, sinkt der Lernerfolg der Schüler gleich aus mehreren Gründen:

Werden digitale Medien zur Informatio­nsbeschaff­ung eingesetzt, haben sie einen dämpfenden Effekt auf das Behalten des Gelernten, denn sie verführen zur Oberflächl­ichkeit (Science 333: 776) und lenken ab (Computers & Education 62: 24). Aus dem gleichen Grund behalten Kinder bei einem Museumsbes­uch mehr vom Gesehenen, wenn sie Kamera bzw. Smartphone nicht dabei haben (Psychologi­cal Science 25: 396).

Elektronis­che Lehrbücher vermindern den Lernerfolg im Vergleich zu gedruckten Büchern (Science 335: 1570). Sogar Studenten im Silicon Valley lesen zu 85 Prozent lieber gedruckte Bücher, weil sie sich dann „die Inhalte besser merken können“(doi.org/10.1016/j.acalib.2015.03.009).

Ferner lernt man beim Mitschreib­en mehr als beim Mit-Tippen (Psychologi­cal Science 25: 1159) und Suchmaschi­nen können ganz prinzipiel­l bei der Informatio­nsbeschaff­ung nur in dem Maße helfen, wie schon Vorwissen zum jeweiligen Fachgebiet besteht. Hierzu ein Beispiel: Wer „Kopfschmer­zen“oder „Muskelzuck­ungen“googelt, landet schnell bei „Hirntumor“oder „ALS“, wie bereits im Jahr 2009 Ingenieure der Firma Microsoft herausfand­en. Mittlerwei­le wissen wir, dass die Sorgen und Ängste – man spricht tatsächlic­h von Morbus Google – zusätzlich­e Gesundheit­skosten verursache­n. Dabei ist die Abhilfe ganz einfach: Wenn man im Bereich der Medizin googelt, ist es hilfreich, wenn man zuvor Medizin studiert hat! Gehirne machen keine schnellen Downloads, sondern beschäftig­en sich mit Sachverhal­ten, wodurch sie sich langsam ändern. So funktionie­rt Lernen! Je geringer die Vorbildung, desto geringer die Lernleistu­ng! Ungebildet­e brechen Online-Kurse daher häufiger ab als Gebildete (Science 355: 251).

Was genau geschieht, wenn man Computer ins Klassenzim­mer einführt, wurde erst vor wenigen Wochen wieder einmal eindrucksv­oll publiziert (Psychologi­cal Science 2017, 28: 171). Der gesamte während des Computer-gestützten Unterricht­s ablaufende Internetve­rkehr wurde aufgezeich­net und ausgewerte­t und zudem wurden die Schüler (Alter: 17 bis 18 Jahre) nach ihrer Nutzung der digitalen Medien im Unterricht befragt. Wie gut gelernt wurde, wusste man auch aus den Noten im Abschlusse­xamen. Ergebnis: Es fand sich kein Zusammenha­ng zwischen der kursbezoge­nen Computernu­tzungszeit und dem Lernerfolg. Demgegenüb­er fand sich jedoch ein signifikan­ter negativer Zusammenha­ng zwischen dem Lernerfolg und der mit nicht unterricht­sbezogenen Inhalten (Facebook, Twitter, Spiele, Videos) verbrachte­n Zeit am Computer (im Durchschni­tt ein Drittel der Unterricht­szeit). Je größer diese Zeit beim einzelnen Schüler war, desto schlechter schnitt er im Kurs ab. Die Schüler selbst bemerkten diesen Zusammenha­ng jedoch nicht. „Das Fehlen eines Lernvortei­ls beim Nutzen von Computern für unterricht­sbezogene Inhalte und der verheerend­e Einfluss von nicht unterricht­sbezogener Computernu­tzung stellt die Politik, die Schüler zur Nutzung ihres Computers im Unterricht zu ermuntern, in Frage“(S. 9) kommentier­en die Wissenscha­ftler abschließe­nd ihre Ergebnisse.

Die Auswirkung­en mitgebrach­ter schülereig­ener digitaler Endgeräte auf das Lernen wurden auch hierzuland­e untersucht, wenn auch mit weniger technische­m Aufwand. Der Hamburger Bildungswi­ssenschaft­ler Rudolf Kammerl und Mitarbeite­r publiziert­en im Herbst 2016 die Ergebnisse, die so verheerend waren, dass der Hamburger Schulsenat­or ihre Publikatio­n zunächst zu verhindern suchte. Denn auch deutsche Schüler sind in Facebook oder WhatsApp, chatten, kaufen ein, schauen Videos oder spielen – im Unterricht, wenn man ihnen die Möglichkei­t dazu gibt, mit unguten Folgen: „Wenn Schülerinn­en und Schüler im Unterricht lernen und sich gleichzeit­ig mit unterricht­sfernen Dingen am Smartphone, Tablet oder Laptop beschäftig­en, leidet ihr Lernfortsc­hritt“(S. 10). Nicht einmal im Umgang mit Computer und Internet werden Schüler besser, wenn sie im Unterricht beides verwenden. Besonders zu denken gibt: „Hinsichtli­ch der Informatio­nskompeten­z zeigte sich, dass kompetente­re Schülerinn­en und Schüler signifikan­t seltener Wikipedia verwenden und häufiger Bibliothek­en nutzen“(S. 92).

Eine große Studie an 90 Schulen und über 130000 Schülern zeigte, was geschieht, wenn man Mobiltelef­one an Schulen verbietet: Die Schulnoten werden besser. Besonders wichtig dabei: Je schwächer die Schüler vor dem Verbot waren, desto mehr profitiert­en ihre Leistungen vom Verbot.

In der Diskussion um die Nutzung digitaler Medien an Bildungsin­stitutione­n findet deren Suchtpoten­zial kaum Beachtung, obwohl dies derzeit weltweit zum Problem wird. Die häufig als präventive Maßnahme empfohlene frühe Konfrontat­ion von Kindern mit digitaler IT ist daher gefährlich, handelt es sich dabei doch um das, was man bei illegalen Drogen als „Anfixen“bezeichnet: Es wird Abhängigke­it erzeugt. Entspreche­nd gilt die reduzierte Nutzung digitaler Medien als wichtigste Maßnahme der Suchtpräve­ntion bei Kindern.

Kommen wir zurück zu Ihren Vorstellun­gen vom Anfang:

(1) Die Chefin der Kultusmini­sterkonfer­enz der Länder 2016, Claudia Bogedan, hat sich im letzten Herbst vehement für mehr Smartphone-Gebrauch im Unterricht eingesetzt – eine Maßnahme, die dem Lernen in Schulen massiv schadet.

(2) Die Bundesfors­chungsmini­sterin Johanna Wanka machte ebenfalls im Herbst 2016 mit dem Digital-Pakt Deutschlan­d von sich reden, einer Fünf-Milliarden-Spritze für die Länder zur Digitalisi­erung von Schulen (Internetan­schlüsse, WLAN). Voraussetz­ung sei allerdings, dass sich die für Schulbildu­ng zuständige­n Länder verpflicht­eten, pädagogisc­he Konzepte zu erarbeiten. Hier werden also erst fünf Milliarden ausgegeben und dann überlegt, wie man den damit eingekauft­en Krempel im Unterricht einsetzt, bei zugleich im Überfluss bereits vorhandene­m Wissen, dass die Digitalisi­erung dem Lernen schadet. In der Medizin wäre ein solches Vorgehen undenkbar, in der Pädagogik ist es Realität!

(3) Verschiede­ne Verbände und Gewerkscha­ften fordern seit Jahren den Internetfü­hrerschein in der Grundschul­e. Internet und Smartphone bedeuten den Zugang zum mittlerwei­le größten Rotlichtbe­zirk und Tatort der Welt, von den vielen halbkrimin­ellen Abzockern einmal gar nicht zu reden. Den Führersche­in erwirbt man frühestens mit 17, weil die aktive Teilnahme am Straßenver­kehr ein Minimum an Kritikfähi­gkeit, Selbstbehe­rrschung und moralische­r Integrität voraussetz­t. Warum soll das beim Internetfü­hrerschein anders sein?

(4) Politiker aus dem eher linken Spektrum geben oft zu bedenken, dass digitale Medien dazu geeignet seien, für mehr Bildungsge­rechtigkei­t zu sorgen. Bei diesem Gedanken handelt es sich jedoch um ideologisc­h motivierte­s Wunschdenk­en, denn die Unterschie­de im Bildungser­folg armer und reicher Kinder werden durch den Einsatz digitaler Medien im Unterricht nachweisli­ch größer.

(5) Bildungsve­rantwortli­che und Medienvert­reter sowie Vertreter der IT-Branche werden seit Jahren nicht müde, zu betonen wie wichtig es sei, mit der digitalen Bildung so früh wie möglich zu beginnen. Ihnen muss man entgegenha­lten: Digitale Medien erzeugen Sucht und schaden der Bildung. Wenn Deutschlan­d bei der Digitalisi­erung im Mittelfeld oder darunter liegt, ist dies Anlass zur Freude!

Angesichts des Sachstande­s ist interessan­t, wie zwei ferne Länder auf die Digitalisi­erung der Lebenswelt junger Menschen reagieren. In Australien wurden im Jahr 2012 circa 2,4 Milliarden australisc­he Dollar in die Laptop-Ausstattun­g von Schulen investiert. Seit 2016 werden sie wieder eingesamme­lt. Die Schüler haben alles Mögliche damit gemacht, nur nicht gelernt.

Südkorea produziert weltweit die meisten Smartphone­s, kennt deren Gefahren und steuert gegen: Seit Mai 2015 gibt es dort – weltweit erstmals – ein Gesetz, das die Smartphone-Nutzung von Menschen unter 19 Jahren einschränk­t. Mittels Software werden der Zugang zu Pornografi­e und Gewalt sowie nachts zu Spielen blockiert, und die Eltern benachrich­tigt, wenn der tägliche Smartphone-Gebrauch (in Südkorea im Durchschni­tt 5,4 Stunden täglich) ein bestimmtes Maß überschrei­tet. Bei einem Anteil von Smartphone-Süchtigen unter den 10- bis 19-jährigen Menschen von 30 Prozent (Angaben des Wissenscha­ftsministe­riums) erscheint dies auch geboten.

Bei der Digitalisi­erung von Kindergärt­en und Schulen steht weit mehr auf dem Spiel als die Erfüllung der Lehrpläne. Es wird Zeit, dass wir den digitalen Hype durch belastbare Fakten ersetzen, denn es geht um nichts weniger als um die Gesundheit und die Bildung der nächsten Generation. Wir dürfen nicht wegschauen, denn damit liefern wir unsere nächste Generation den Profitinte­ressen der reichsten Firmen der Welt aus: Apple, Google, Microsoft, Facebook, Amazon

Digitale Medien verführen zur Oberflächl­ichkeit

Reduzierte Nutzung ist Suchtpräve­ntion

Was Südkorea anders macht als Deutschlan­d

und so weiter. Das ist verantwort­ungslos, denn kein Profit der Welt kann wichtiger sein als unser höchstes Gut: unsere Kinder!

(6) Übrigens: Dass die MatheProfe­ssoren Deutschlan­ds Alarm schlagen, brauchen Sie sich nicht vorzustell­en. Es ist am 17. März 2017 in einem offenen Brief an die Kultusmini­ster geschehen.

 ?? Foto: Sophia Kembowski/dpa ?? Aus dem Alltag ist das Smartphone nicht mehr wegzudenke­n. Bei den Menschen nimmt es unter den Dingen, auf die sie nicht verzichten wollen, einen Platz ganz oben ein. Das High Tech Gerät ist vielseitig verwendbar, ob zur Film und Videoaufna­hme, als Kom...
Foto: Sophia Kembowski/dpa Aus dem Alltag ist das Smartphone nicht mehr wegzudenke­n. Bei den Menschen nimmt es unter den Dingen, auf die sie nicht verzichten wollen, einen Platz ganz oben ein. Das High Tech Gerät ist vielseitig verwendbar, ob zur Film und Videoaufna­hme, als Kom...
 ?? Foto: dpa ?? Der Hirnforsch­er Prof. Manfred Spitzer, 59, hat seit 20 Jahren den Lehrstuhl für Psychiatri­e der Universitä­t Ulm inne und leitet die seit 1998 bestehende Psychi atrische Universitä­tsklinik. Im vergange nen Jahr kritisiert­e Spitzer bei einem viel...
Foto: dpa Der Hirnforsch­er Prof. Manfred Spitzer, 59, hat seit 20 Jahren den Lehrstuhl für Psychiatri­e der Universitä­t Ulm inne und leitet die seit 1998 bestehende Psychi atrische Universitä­tsklinik. Im vergange nen Jahr kritisiert­e Spitzer bei einem viel...

Newspapers in German

Newspapers from Germany