Quallensprung
Montagsglosse
Einst sagten uns die großen Klassiker, wie sich der Mensch verhalten soll. Heute liefert die Naturwissenschaft gültige Maßstäbe für die optimale Ausrichtung des Lebens. Unser Vorbild ist nicht mehr Marquis Posa oder Iphigenie, sondern die Qualle Turritopsos Nutricula.
Der italienische Meeresbiologe Ferdinand Boero hat nämlich nachgewiesen, dass dieses Tier unsterblich ist. Wenn sich die Qualle alt und gebrechlich fühlt, sinkt sie auf den Meeresboden, um dort eine Runderneuerung durchzuführen. Dabei erlangen ihre Nervenund Nesselzellen die Frische eines Quallenbabys. Quietschvergnügt pumpt sich dann die verjüngte Turritopsos Nutricula erneut durch die Weltmeere und in Richtung ewiges Leben.
Um diese Fähigkeit ringen immer mehr Mitmenschen. Wer gleichsam auf den Meeresboden abgesunken ist, verjüngt seine Nervenzellen mit Tabletten, Rote-Bete-Saft, Kurzurlaub und Langläufen. Lifting-Experten verleihen faltigen Gesichtern einwandfreie Babyglätte. Professionelle Fettabsauger geben der Körpersilhouette den Reiz ewig gültiger Schönheit.
Aber noch immer fehlt uns der Quallensprung in die Unsterblichkeit. Deshalb hält sich so mancher Zeitgenosse, der sich nach Ewigkeit sehnt, vorläufig an das Beispiel des Odysseus, sucht den Kontakt mit einer schönen Kalypso und erlebt, was Homer in der „Odyssee“berichtet: „Freundlich nahm sie mich auf, betreute mich als Gast mit Liebe und sie gab das Versprechen, ewiges Leben und ewige Jugend zu schenken.“