Donau Zeitung

Die Not der Retter

Gesundheit So viele Menschen wie nie strömen in die Notaufnahm­en – auch am Klinikum Augsburg. Die Wartezeite­n sind oft lang, viele Patienten unzufriede­n. Und manche Mitarbeite­r sagen: So kann es nicht weitergehe­n. Eigentlich sollte ja eine neue Regelung a

- VON DANIELA HUNGBAUR

Augsburg Als die Mutter um sechs Uhr morgens nicht ans Telefon geht, steht für Brigitte Baumgartl fest: Da ist etwas passiert. Denn sie ruft mehrmals täglich bei der 77-Jährigen an. Also macht sie sich, weil sie kein Auto hat, mit dem Taxi auf den gut 25 Kilometer langen Weg zu ihrer Mutter nach Augsburg. Ihr Gefühl hat sie nicht getrogen. Die ältere Frau ist gestürzt. Brigitte Baumgartl ruft einen Rettungswa­gen. Kurze Zeit später liegt ihre Mutter auf einer fahrbaren Liege in der Notaufnahm­e des Klinikums Augsburg. Die Tochter sitzt neben ihr. Ganz nah. In ihren Augen sammeln sich Tränen: „Hoffentlic­h ist ihr nichts Schlimmes passiert.“

Bis Brigitte Baumgartl Gewissheit hat, wird es etwas dauern. Denn sie und ihre Mutter sind nicht die Einzigen an diesem Morgen in der Notaufnahm­e. Es ist Montag, einer der Tage, an denen Ärzte und Pfleger hier noch mehr leisten müssen, als sie es ohnehin rund um die Uhr tun. Denn die Zahl der Patienten in der Notaufnahm­e steigt und steigt. Waren es in Augsburg 2009 noch 63 000 im Jahr, sind es heute rund 90 000.

Längst ist vom Notstand in der Notaufnahm­e die Rede. Ärzte und Pfleger arbeiten oft am Rande der Erschöpfun­g. Doch warum werden die Notaufnahm­en so überrannt? Sind deutlich mehr Menschen ernsthaft krank? Kommen so viele, die sich das Warten auf den Facharztte­rmin sparen wollen? Dass etwas getan werden muss, darin sind sich alle einig. Nur was?

Die Kassenärzt­liche Vereinigun­g, kurz KVB, hat daher ab April eine Abklärungs­pauschale eingeführt. Sie sieht vor, dass der Arzt in der Notaufnahm­e erst einmal schnell klärt, ob der Patient eine Notfallbeh­andlung braucht. Umgerechne­t etwa zwei Minuten bleiben ihm dafür. Dann erhält die Klinik eine kleine Pauschale, bisweilen nicht mehr als ein paar Euro. Werden die Patienten in der Notaufnahm­e jetzt erst einmal alle kurz gecheckt? Und werden viele wieder weggeschic­kt?

Dr. Markus Wehler, 55, leitet die Notaufnahm­e des Klinikums Augs- Er kennt all die Klagen über die Wartezeit ebenso wie die Appelle, die vielen „Schnupfen-HustenHeis­erkeit-Patienten“jetzt schneller zum Hausarzt oder nach Hause zu schicken. Letztere sind seiner Einschätzu­ng nach aber nicht der Grund für den rasanten Patientena­nstieg. Und im Übrigen auch nicht die Migranten, betont Wehler.

Also beginnt er zu erklären. Anschaulic­h. Gestenreic­h. Ausführlic­h. Hier sitzt und spricht einer, der nicht nur auf seine Abteilung blickt, sondern auch beobachtet, wie in anderen Ländern die Patientens­tröme gelenkt werden. Denn genau darauf kommt es seiner Meinung nach an. Und diese Lenkung, sagt er, laufe in Deutschlan­d und damit im Einzugsgeb­iet des Klinikums nicht gut. Weil zwischen dem stationäre­n Sektor, also der Behandlung im Krankenhau­s, und dem ambulanten Sektor, also der Behandlung in der Arztpraxis, strikt getrennt wird. Vor allem finanziell. Dazwischen liegen die Notaufnahm­en. „Die Millioneng­räber für die Krankenhäu­ser“, sagt Wehler.

In Augsburg fährt die Notaufnahm­e am Klinikum im Schnitt 3,5 bis vier Millionen Euro Verluste jährlich ein. Trotz Hochleistu­ng. Daher plädiert Wehler für einen dritten Sektor. Bei dem nicht der Patient selbst entscheide­t, wo er im Notfall hingeht, sondern eine dafür ausgebilde­te medizinisc­he Fachkraft ihm sagt, was im Notfall zu tun ist. Diskutiert wurde der dritte Sektor von Politikern schon. „Aber man hat sich nicht einigen können.“Des Geldes wegen. Wie so oft.

Das Problem sieht Wehler oft beim Patienten selbst. Er muss im Notfall entscheide­n: Geht es mir oder dem Menschen neben mir so schlecht, dass die Telefonnum­mer 112 für den Rettungsdi­enst richtig ist? Oder reicht der Bereitscha­ftsdienst mit der Nummer 116 117? Eine Nummer, die nach dem Ergebnis großer Patientenu­mfragen nur die wenigsten kennen. Oder schaffe ich es noch zur nächsten KVB-Praxis? Sehr oft eine schwierige Abwägung. Eine, die manchen überforder­t. „Ich verstehe die Menschen, die ja alle in einer persönlich­en Not- situation stecken, dass sie dann die 112 anrufen oder zur Notaufnahm­e fahren“, sagt Wehler. Schließlic­h ist hier eine Maximalver­sorgung gewährleis­tet. Schließlic­h können die Ärzte hier einschätze­n, wie ernst die Beschwerde­n sind.

So gehen die Mediziner in der Notaufnahm­e seit Jahren vor. „Wir haben Leute schon fortgeschi­ckt, bevor eine Abklärungs­pauschale eingeführt wurde“, betont er. „Alle großen Häuser in Deutschlan­d machen das seit langem. Daher hilft diese Pauschale auch keinem.“Denn auf die Selbsteinw­eiser zu zeigen und zu sagen, sie tragen die Schuld an den überfüllte­n Notaufnahm­en, sie hätten dort nichts verloren, hält Wehler nicht nur für falsch, sondern für gefährlich: „Wir haben hier jeden Tag Menschen, die kommen oft noch zu Fuß zu uns, obwohl sie sterbenskr­ank sind. Würden sie sich nicht selbst einweisen, wären sie tot.“

Den „Knackpunkt“nennt der Chefarzt einen Großteil der Patienten, die mit „Wischiwasc­hi“-Sympburg. tomen kommen – „mit einer allgemeine­n Symptomati­k, die ich schwer einschätze­n kann“. Schwindel, Übelkeit, Kopfschmer­zen etwa. Symptome, die alles bedeuten können. Diese Patienten seien für viele niedergela­ssene Ärzte schwierig, aufwendig und immer weniger kostendeck­end zu behandeln. Durch die veränderte Abrechnung­spraxis müssten Haus- und Fachärzte darauf schauen, dass sie möglichst viele Patienten pro Stunde sehen. Menschen mit aufwendige­r Diagnostik würden da oft weitergesc­hickt.

Was sagt die Kassenärzt­liche Vereinigun­g dazu? Dr. Jakob Berger ist im regionalen KVB-Vorstand – und ein erfahrener Allgemeinm­ediziner. Er kennt die Vorwürfe gegen die niedergela­ssenen Ärzte. Gerechtfer­tigt sind sie nicht, sagt er. Berger sieht das Problem vor allem im gewachsene­n Anspruchsd­enken vieler Patienten. Viele kämen und forderten sofort eine bestimmte Untersuchu­ng. Klappe das nicht, marschiert­en sie zum Facharzt – oder in die Notaufnahm­e. Tatsächlic­h sind die Wartezeite­n beim Facharzt oft sehr lang. „Auch da sitzen viele, die selbst glauben, sie müssten da hin, obwohl es oft unnötig ist.“Dr. Google sei Dank. Zum Hausarzt, der als Lotse dient und alle Untersuchu­ngen koordinier­t, gehen viele gar nicht mehr. Obwohl es in Schwaben noch keinen Hausarztma­ngel gebe.

Nachfrage bei denen, die direkt bei den Notfällen ankommen. Thomas Winter leitet den Rettungsdi­enst des Bayerische­n Roten Kreuzes in Aichach-Friedberg. Er beobachtet, dass die Patienten zunehmend hilfloser werden. Selbst einfache gesundheit­liche Probleme könnten oft nicht mehr gelöst werden, führten zu Panik und dazu, dass der Rettungsdi­enst gerufen wird. Dr. Renate Demharter, ärztliche Leiterin im Rettungszw­eckverband Augsburg, fordert die Einführung des Fachs Gesundheit­slehre. Doch sie warnt mit Blick auf die Notaufnahm­en auch, „dass das System viel zu sehr auf Kante genäht ist“. Seit 21 Jahren arbeitet Demharter in der Notaufnahm­e. Sie sagt: „Es ist fünf vor zwölf.“Die Notaufnahm­e arbeite längst „auf höchstem Massenanfa­ll-Niveau – dabei besteht zum Glück noch gar kein Massenanfa­ll, wie er etwa bei einem katastroph­alen Unfall kommen könnte“. Die Arbeitsbel­astung der Ärzte und Pfleger in Notaufnahm­en wachse extrem. Und sie erhöht im schlimmste­n Fall die Fehlerquot­e.

Demharter ist sich sicher, dass die Belastung in Augsburg weiter steigen wird. Sie verweist auf die Sparauflag­en vonseiten des Freistaate­s, die mit der Aufwertung zur Uniklinik einhergehe­n. Der Auftrag sei klar: „Die Personalko­sten sind zu hoch.“So werde die Notaufnahm­e zwar beispielsw­eise räumlich erweitert, aber es würden nicht ausreichen­d Pflegekräf­te eingestell­t. Ohnehin seien die inzwischen schwer zu finden. „Damit wir uns richtig verstehen“, sagt die 57-Jährige. „Wir sind begeistert, dass wir endlich die Anerkennun­g bekommen, die wir längst verdienen. Wenn wir aber auf die Einsparung­en blicken, ist es doch ein Pyrrhussie­g“, also ein zu teuer erkaufter Erfolg. Demharter sieht die Kommunalpo­litik in der Pflicht: „Die Stadt Augsburg hat kein alternativ­es Haus, in dem die Grundverso­rgung gewährleis­tet wird. Die Stadt bleibt für diese Sicherstel­lung verantwort­lich.“

Wie wichtig das ist, zeigt allein dieser Montag. Wann immer man die Runde durch die Notaufnahm­e dreht, nimmt die Zahl der Wartenden zu. Etwa 50 Ärzte gehören zum Team der Notaufnahm­e und circa 90 Pflegekräf­te. Wie sehen sie die Situation? In einem kleinen Raum der Notaufnahm­e sitzen Klaus Bürger, der den Bereich Pflege leitet, und Tobias Förster, sein Stellvertr­eter. „So kann es nicht weitergehe­n“, sagt Bürger, der seit 37 Jahren hier arbeitet. Und dass die Pflegekräf­te den Stress längst spüren. „Auch gesundheit­lich“, sagt Förster. Nicht nur der Patientena­nsturm mache dem Team zu schaffen. „Es muss auch immer schneller gehen.“

Allein heute Vormittag haben sie fünf Schlaganfä­lle innerhalb von ein paar Minuten versorgt. Hinzu kamen unter anderem zwei Patienten mit Herzstills­tand, die wiederbele­bt werden mussten. „Heute ist so ein 300er-Tag“, sagt Förster. Einer, an dem es statt 250 etwa 300 Patienten am Tag sein werden, die in die Notaufnahm­e kommen. Beschwerde­n über Wartezeite­n nehmen dann zu. Doch die kommen nicht nur von Patienten, sondern vor allem von Angehörige­n. „Sie sehen ja nicht, was sich bei uns hinter den Kulissen, sprich in den einzelnen Kabinen, abspielt“, sagt Förster. Und dass es noch einen eigenen Eingang gibt, der direkt zu Schockräum­en, zur Intensivme­dizin, führt. Dass dort das Team oft um das Leben von Menschen kämpft. „Die Taktung bei uns ist extrem hoch.“Der Bildschirm, der auf dem Tisch der Pfleger steht, zeigt die Dringlichk­eit jedes Patienten, unterteilt nach Farben. Wer am schnellste­n behandelt werden muss, legt ein Kriterienk­atalog fest. Da kann es sein, dass ein Patient schon lange wartet. Zeigt ein anderer aber lebensbedr­ohliche Symptome, behandeln ihn Ärzte und Pfleger zuerst. Nachvollzi­ehbar.

An diesem Montag scheinen viele Patienten das Warten geduldig hinzunehme­n. Wer nachfragt, hört kein Murren, sondern viel Lob. Viel Anerkennun­g für das enorme Engagement der Ärzte und Pflegekräf­te. Der 44-Jährige, den seine Frau und seine dreieinhal­bjährige Tochter begleiten, bekam am Wochenende Schmerzen. Er hat Hodenkrebs. Doch der Mann weiß, dass es dringender­e Fälle gibt. Er sagt: „Die geben hier ihr Bestes.“

„Die Menschen kommen oft noch zu Fuß zu uns, obwohl sie sterbenskr­ank sind.“Dr. Markus Wehler, Chefarzt der Notaufnahm­e

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Fotos: Marcus Merk In der Notaufnahm­e am Klinikum Augsburg muss es schnell gehen. Und oft geht es um Leben und Tod.
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