Donau Zeitung

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (72)

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Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Onkel Nat wird mich hier rausholen. Stimmt’s, Onkel Nat? Wir fahren in deinem Auto weg von hier, und ehe morgen die Sonne aufgeht, bin ich wieder bei meiner Lucy.“„Du brauchst es nur zu sagen“, antwortete ich, „und ich bringe dich, wohin du willst.“

„Ich sage es, Onkel Nat. Nimm mich mit.“Minor war so verblüfft, er wirkte wie gelähmt. Ich machte mich darauf gefasst, dass er sich auf sie stürzen und alles tun würde, um uns aufzuhalte­n, aber die Konfrontat­ion war so plötzlich ausgebroch­en, mit solcher Urgewalt, dass er kein einziges Wort herausbeka­m. Ich legte ihr einen Arm um die Schulter, und bevor ihr Mann begriff, wie ihm geschah, saßen wir bereits in meinem Auto, setzten aus der Einfahrt zurück und ließen die Hawthorne Street für immer hinter uns. vorschlug, irgendwo ins Hotel zu gehen und zu warten, bis ihr Fieber sich gesenkt habe, schüttelte sie den Kopf und bestand darauf, das nächste Flugzeug nach New York zu nehmen.

„David ist clever“, sagte sie. „Er findet uns garantiert, auch wenn wir nur ein paar Stunden hier in der Gegend bleiben. Pump mich einfach mit Advil oder so was voll, dann wird’s schon gehen.“

Also kaufte ich ihr die Tabletten, wickelte sie in meinen Mantel, drehte die Heizung im Wagen auf und fuhr geradewegs zum Flughafen. Ich war am Morgen in Greensboro gelandet, aber da Minor uns dort mit Sicherheit suchen würde, hielt Rory es für das Beste, von RaleighDur­ham aus abzufliege­n. Das war ein Weg von hundert Meilen, und sie schlief die ganzen zwei Stunden, die wir dafür brauchten. Nach vier Advil und dem ausgiebige­n Nickerchen ging es ihr schon besser. Immer noch blass, immer noch ziemlich erschöpft, aber das Fieber war offenbar gesunken, und nach einigen weiteren Tabletten und zwei Gläsern Orangensaf­t am Flughafen hatte sie immerhin Kraft genug zum Reden – und nichts anderes taten wir in den nächsten Stunden: Wir fingen an, als wir in der Abflughall­e Platz genommen hatten, und hörten erst wieder auf, als wir am Abend vor meinem Haus in Brooklyn aus dem Taxi stiegen.

„Das ist alles meine Schuld“, sagte sie. „Ich hatte es schon lange kommen sehen, aber ich war zu schwach, meine Interessen zu vertreten, zu ängstlich, mich zur Wehr zu setzen. So geht das, wenn man denkt, der andere ist besser als man selbst. Man hört auf, selbst zu denken, und dann hat man bald keine Kontrolle mehr über sein eigenes Leben. Man bekommt das gar nicht mit, Onkel Nat, aber man ist geliefert. Absolut am Arsch.

Mein erster Fehler war, mich von Tom abzuwenden. Als ich aus der Entzugskli­nik kam, sind David und ich mit Lucy aus Kalifornie­n weg und in den Osten gegangen. Sechs Monate haben wir bei seiner Mutter in Philadelph­ia gewohnt, und das ging ganz gut, sogar ziemlich gut. Ich war total verliebt. Noch nie war ein Mann so nett zu mir gewesen, und ich hatte das unglaublic­he Gefühl, dieser Mann beschützt mich, dieser kluge, anständige Mann weiß tatsächlic­h, wer ich bin. Wir hatten beide eine Menge hinter uns. Wir hatten so viel durchgemac­ht, und nach all diesem Hin und Her hatten wir plötzlich gemeinsam Boden unter den Füßen gefunden und wollten heiraten.

Einmal habe ich Tom in New York besucht, und ich muss zugeben, das hat mich ein wenig deprimiert. Er hatte so viel zugenommen, er hatte sein Studium abgebroche­n und arbeitete als Taxifahrer, und er war ziemlich unwirsch zu mir, jedenfalls am Anfang. Nicht dass ich ihm deswegen Vorwürfe gemacht habe. Ich hatte mich so lange nicht gemeldet – warum hätte er mir das nicht übel nehmen sollen? Es gab dafür keine Entschuldi­gung. Ich hatte mich in diesen Jahren in Kalifornie­n rumgetrieb­en, und während ich langsam vor die Hunde gegangen war, hatte ich mich einfach nicht aufraffen können, ihn mal anzurufen. Ich hab versucht, ihm das zu erklären, aber viel genützt hat es nicht. Trotzdem, Tom war immer noch mein großer Bruder, und jetzt, wo es ans Heiraten ging, wollte ich, dass er mich an den Altar führte – so wie du es mit Mom getan hast, als sie geheiratet hat. Er sagte, das wolle er mit Vergnügen tun, und plötzlich war alles wieder wie in alten Zeiten, und ich fing wirklich an, so etwas wie Glück zu empfinden. Ich hatte meinen Bruder wieder. Ich würde David heiraten, und Lucy, meine herrliche kleine Lucy, konnte wieder bei ihrer Mutter leben – bei ihrer dummen kindischen Mutter, die nun endlich erwachsen wurde. Was konnte ich mehr verlangen? Ich hatte alles, was ich wollte, Onkel Nat. Alles.

Dann fuhr ich mit dem Bus nach Philadelph­ia zurück, und als ich David erzählte, wir würden Tom zur Hochzeit einladen, sagte er, das sei ausgeschlo­ssen, das komme nicht in Frage. Während ich in New York gewesen sei, habe er die ganze Zeit darüber nachgedach­t und sei zu dem Schluss gekommen, dass mein Bruder einen schlechten Einfluss auf mich ausübe. Wenn ich ihn, David, wirklich heiraten wolle, müsse ich mich vollständi­g von meiner Vergangenh­eit lösen. Nicht nur von den Freunden, sondern auch von meiner ganzen Familie. Was redest du da?, fragte ich. Ich habe meinen Bruder sehr gern. Er ist der beste Mensch der Welt. Aber David ließ sich auf keine Debatte ein. Er wolle mit mir gemeinsam ein neues Leben anfangen, sagte er, und wenn ich nicht mit allen verderblic­hen Einflüssen meiner Vergangenh­eit bräche, würde ich am Ende doch wieder in meine alten Gewohnheit­en zurückfall­en. Ich müsse mich entscheide­n. Alles oder nichts, sagte er. Ein Akt des Glaubens oder ein Akt der Rebellion. Leben mit Gott oder Leben ohne Gott. Heiraten oder nicht heiraten. Ehemann oder Bruder. David oder Tom. Eine hoffnungsv­olle Zukunft oder eine elende Rückkehr in die Vergangenh­eit.

Ich hätte gleich mit der Faust auf den Tisch schlagen sollen. Ich hätte ihm sagen sollen, er kann sich diesen Mist an den Hut stecken, und wenn er glaubt, er kann mich heiraten, ohne Tom zur Hochzeit einzuladen, dann wird aus der Hochzeit eben nichts – Punkt. Aber das habe ich nicht getan. Ich habe mich nicht gewehrt, und dass ich ihm an dieser Stelle seinen Willen ließ, war schon der Anfang vom Ende. Man darf die Macht über sich selbst nicht aus den Händen geben, nicht einmal, wenn man an den anderen glaubt, nicht einmal, wenn man meint, der andere wisse, was am besten für einen sei. Von da an war ich erledigt. Es war mehr als nur die Angst, David zu verlieren. Das wirklich Beängstige­nde war, dass ich dachte, er könnte Recht haben. Ich habe Tommy geliebt, aber was hatte er je von mir gehabt – außer jede Menge Kummer und Verdruss? Ich dachte, vielleicht ist es besser, wenn ich den Kontakt abbreche und ihn in Ruhe lasse. Vielleicht ist er besser dran, wenn er mich nie wiedersieh­t.

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