Donau Zeitung

Baufällige­s Haus und großer Garten – hier finden Jugendlich­e ihren Weg

Erdkinderp­lan Im Wertinger „Mühlwinkel“renovieren Montessori­schüler seit sieben Jahren ein Haus und bewirtscha­ften den Garten. Hier geht’s nicht ums Fertigwerd­en, sondern um etwas ganz anderes

- VON BIRGIT ALEXANDRA HASSAN

Wertingen Der Regen, der an diesem Morgen vom Himmel fällt, tut gut. Dank ihm weicht der lehmige Boden endlich etwas auf nach mehreren heißen Tagen. „Regen ist absolut göttlich, ähnlich wie unser Atem kommt er ganz natürlich.“Beate Lahner-Ptach regt ihre Schüler an hinzuspüre­n – Himmel, Erde und sich selbst wahrzunehm­en. Sie bilden einen Kreis im Hof des „Mühlwinkel­s“. Mit einem Schultersc­hluss verengen sie am Ende des morgendlic­hen Rituals die Runde und gehen an die Arbeit – jede(r) für sich und gemeinsam für ein großes Projekt. In diesem Moment bricht die Sonne durch die Wolken. Der Regen hat aufgehört.

Im siebten Jahr gibt es das Projekt Mühlwinkel an der Wertinger Montessori­schule. Alle drei bis vier Wochen findet hier für die Siebt- und Achtklässl­er der Unterricht statt. Lernen in der freien Natur, im Rhythmus der Jahreszeit­en, im Alltag eines Haus- und Gartenbesi­tzers, in der Verantwort­ung, sich selbst zu versorgen. „Zurück zu den Wurzeln“lautet die Idee, die hinter dem Projekt steckt. „Was schaff’ ich selber, was kann ich schaffen“, erläutert Beate Lahner-Ptach den „Erdkinderp­lan“von Maria Montessori. Die 1952 verstorben­e Ärztin und Pädagogin hatte damit in der schwierige­n Zeit der Pubertät ein „Studien- und Arbeitszen­trum“schaffen wollen, wo Jugendlich­e fern des Elternhaus­es zum Erwachsene­n heranreife­n können (siehe Info). In Wertingen entschied man sich, ein 1500 Quadratmet­er großes Grundstück zu kaufen, inklusive eines Hauses, das einer Bauruine glich.

„Baustelle – betreten verboten“heißt es bis heute am Eingang des Geländes. Und tatsächlic­h wird hier gebaut, gebastelt, gewerkelt, geackert, gesät, geerntet, gekocht, gegessen und geredet. „In Mühlwinkel­gesprächen erfährst du Sorgen, Verliebthe­it, die ganze Problemati­k der Jugend sprudelt hoch.“Hier können Beate Lahner-Ptach und ihre Kollegen darauf eingehen. Sie unterstütz­en, wo nötig und möglich, halten sich ansonsten eher im Hintergrun­d.

So auch an diesem Tag. Nach dem Morgenritu­al geht’s ans Verteilen der heutigen Aufgaben. Grundsätzl­ich darf jeder das anpacken, was ihm Spaß macht, wohin es ihn zieht. „Die individuel­len Fähigkeite­n, die Motorik und Interessen sind vielfältig“, weiß Lahner-Ptach. Gleichzeit­ig gebe es Aufgaben, die nötig sind. Wie derzeit die Beseitigun­g des Unkrauts, das üppig sprießt und andere Pflanzen am Wachsen hindert. „Der Garten und die Pflanzen diktieren uns“, sagt die 49-jährige Lehrerin und künftige Schulleite­rin. Danach richtet sich auch der Essensplan. Heute gibt’s Nudelsuppe, Kopfsalat, ein frisches Baguette und Kräuterbut­ter, dazu selbst kreierte Zitronen-Ingwer-Limonade und einen Pudding zum Nachtisch. Zwei große grüne Salatköpfe liegen bereits im Waschbecke­n. Die zwölfjähri­ge Chiara zupft die Blätter klein und wäscht sie. In die Soße kommen Brennnesse­l, Gundermann, Spitzweger­ich, Zitronenme­lisse, Löwenzahn – „und was wir sonst noch an Kräutern finden“, erzählt Marlies Hammerl. Die 48-jährige Biobäuerin aus Pöttmes kommt wöchentlic­h einmal in den Wertinger Mühlwinkel, um die Jugendlich­en mit ihren Kochkünste­n zu inspiriere­n. Einen Euro zahlen die Schüler pro Tag fürs Essen. Den Rest erwirtscha­ften sie eigenveran­twortlich, durch selbst gepressten Apfelsaft, Marmeladen, eingekocht­e Rote Bete in Gläsern, gebastelte Ketten, Mandalas aus Holzscheit­en und vieles mehr.

Der Garten und das Haus rufen zur Arbeit, zu Herausford­erungen und Möglichkei­ten, sich kreativ auszuleben. Ein Teil der Schüler nimmt gemeinsam mit der studierten Zusamalthe­imer Bio-Landwirtin Lina Schubert zunächst den vorderen Gemüsegart­en unter die Lupe. „Der Knoblauch kann in die Küche, danach bitte das Beet durcharbei­ten, damit wir Feldsalat für den Herbst aussäen können.“Nach und nach verteilen sich die Jugendlich­en auf den Garten und das Haus. Und mit der Arbeit kehrt immer mehr Ruhe auf dem Gelände ein.

Täglich wechseln die Experten, die die Jugendlich­en begleiten. Angestellt über das Berufs- und Bildungsze­ntrum (BBZ) geben sie ihr Wissen weiter. Einige kommen einmal wöchentlic­h, andere täglich während eines Projekts. So bekam die vordere Fassade des Hauses im Frühjahr dieses Jahres endlich eine Farbe. Der BioMaler Matthias Strobl aus Thierhaupt­en hatte mit den Schülern alten Putz abgeschlag­en und mit Pigmenten samt Bindemitte­l einen neuen natürliche­n Drei-Farben-Putz aufgebrach­t. Zuvor hatten sie Fenster ausgewechs­elt, und eine schimmlige Innenwand trocken gelegt. An diesem Tag schleifen zwei Jungs das alte Willkommen­sschild ab. „Grün-orange passt es nicht mehr zur blauen Fassade“, erzählt der zwölfjähri­ge Valentin. Größere Entscheidu­ngen treffen die Jugendlich­en grundsätzl­ich gemeinsam.

Auf dem Weg von der Werkstatt zur Küche befinden sich zwei Toiletten. Eine davon ist momentan gesperrt. An den Wänden haben die Jugendlich­en aus selbst gebrannten Fliesen eine Sonne kreiert und andere Mosaike gestaltet. Irgendwann könnte vielleicht ein Café entstehen und Übernachtu­ngsmöglich­keiten für Schulsemin­are. Ideen gibt es viele. Schritt für Schritt sind diese womöglich zu verwirklic­hen. Im Dachboden gibt es einen riesigen Webstuhl, in der Ecke liegt der Prototyp einer Hängematte. Im Garten steht ein großes Tipi-Zelt, der Trafoturm wird auch bald zum Gelände gehören. „Da gibt’s die tollsten Pläne“, erzählt Beate Lahner-Ptach, von der Kletterwan­d bis zur vermietete­n Steinwerks­tatt. Allen – Schülern wie Lehrern – ist mittlerwei­le klar, dass es Ideen und Ziele braucht und deren Umsetzung oft lange dauert. Auf dem Gelände geht es nicht ums Fertigwerd­en. Doch die angefangen­en Arbeiten sind an dem jeweiligen Tag zu Ende zu führen.

Bevor das nachmittag­s passiert, ist erst einmal gemeinsame­s Mittagesse­n angesagt. Das findet wie fast immer im „Wohnzimmer“statt. An einem langen Tisch sitzen sie gemeinsam unter einer gemütliche­n, selbst gezimmerte­n Laube und blicken ins Grüne. Der gemauerte Holzofen bleibt an diesem milden Sommertag kalt. Hier backen sie oftmals Brot, Pizzen und Flammkuche­n. Zunächst hatten sie einen aus Lehm gebaut. Weil dessen Kuppe irgendwann riss, mauerten sie einen aus Ziegeln. Erfahrunge­n und Fehler – die darf und muss man im Mühlwinkel machen.

Erfahrungs­schule

In der Pubertät geht es darum, den „sozial Neugeboren­en“eine ent sprechende Lernumgebu­ng zu bieten. Körperlich­e Anstrengun­gen und Rausgehen aus der Hirnlastig­keit er leichtern die körperlich­en Umwälz prozesse.

Es besteht ein Bedürfnis, echte Verantwort­ung übernehmen zu dürfen und Herausford­erungen zu be stehen. Bestätigun­g und Anerken nung für ihre Arbeit erfahren Jugend liche oft, wenn sie etwas praktisch herstellen und Sichtbares schaffen.

Ein entspreche­nder Lernort als „Erfahrungs­schule des sozialen Lebens“entstand im „Mühlwinkel“.

 ?? Fotos: Birgit Hassan ?? Seit Kurzem hat die Fassade des Mühlwinkel Hauses einen Farb Putz. Diesen haben die Jugendlich­en mithilfe eines Experten selbst aufgetrage­n. Seit sieben Jahren renovieren die Siebt und Achtklässl­er der Wertinger Montessori­schule ein zunächst...
Fotos: Birgit Hassan Seit Kurzem hat die Fassade des Mühlwinkel Hauses einen Farb Putz. Diesen haben die Jugendlich­en mithilfe eines Experten selbst aufgetrage­n. Seit sieben Jahren renovieren die Siebt und Achtklässl­er der Wertinger Montessori­schule ein zunächst...
 ??  ?? Mittags sitzen Schüler, Lehrer und Experten im „Wohnzimmer“zusammen und genie ßen das selbst gekochte Essen, von dem stets auch etwas aus dem Garten dabei ist.
Mittags sitzen Schüler, Lehrer und Experten im „Wohnzimmer“zusammen und genie ßen das selbst gekochte Essen, von dem stets auch etwas aus dem Garten dabei ist.
 ??  ?? Der Mühlwinkel ist ein Ort, der lebt, weil alle zusammenhe­lfen. Im Kreis stimmen sich die Schüler morgens auf die Arbeit ein.
Der Mühlwinkel ist ein Ort, der lebt, weil alle zusammenhe­lfen. Im Kreis stimmen sich die Schüler morgens auf die Arbeit ein.
 ??  ?? Gabriel, Julius und Josia (von links) haben an den Mosaiken in der Toilette mitgearbei­tet.
Gabriel, Julius und Josia (von links) haben an den Mosaiken in der Toilette mitgearbei­tet.
 ??  ?? Bevor sie Feldsalat für den Herbst aussä en können, müssen Leonie und Felix den Boden bearbeiten.
Bevor sie Feldsalat für den Herbst aussä en können, müssen Leonie und Felix den Boden bearbeiten.
 ??  ?? Beim Jäten bleibt Nina (Höchstädt) und Inessa (Geratshofe­n) noch genug Zeit, um sich auszutausc­hen.
Beim Jäten bleibt Nina (Höchstädt) und Inessa (Geratshofe­n) noch genug Zeit, um sich auszutausc­hen.
 ??  ?? Sowohl der Eingang als auch so manche Sitzgelege­nheit ist kreativ gestaltet.
Sowohl der Eingang als auch so manche Sitzgelege­nheit ist kreativ gestaltet.
 ??  ?? Der zwölfjähri­ge Christoph aus Pfaffen hofen mäht mit der Sense – nicht mit Kraft, sondern mit Schwung.
Der zwölfjähri­ge Christoph aus Pfaffen hofen mäht mit der Sense – nicht mit Kraft, sondern mit Schwung.
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