Baufälliges Haus und großer Garten – hier finden Jugendliche ihren Weg
Erdkinderplan Im Wertinger „Mühlwinkel“renovieren Montessorischüler seit sieben Jahren ein Haus und bewirtschaften den Garten. Hier geht’s nicht ums Fertigwerden, sondern um etwas ganz anderes
Wertingen Der Regen, der an diesem Morgen vom Himmel fällt, tut gut. Dank ihm weicht der lehmige Boden endlich etwas auf nach mehreren heißen Tagen. „Regen ist absolut göttlich, ähnlich wie unser Atem kommt er ganz natürlich.“Beate Lahner-Ptach regt ihre Schüler an hinzuspüren – Himmel, Erde und sich selbst wahrzunehmen. Sie bilden einen Kreis im Hof des „Mühlwinkels“. Mit einem Schulterschluss verengen sie am Ende des morgendlichen Rituals die Runde und gehen an die Arbeit – jede(r) für sich und gemeinsam für ein großes Projekt. In diesem Moment bricht die Sonne durch die Wolken. Der Regen hat aufgehört.
Im siebten Jahr gibt es das Projekt Mühlwinkel an der Wertinger Montessorischule. Alle drei bis vier Wochen findet hier für die Siebt- und Achtklässler der Unterricht statt. Lernen in der freien Natur, im Rhythmus der Jahreszeiten, im Alltag eines Haus- und Gartenbesitzers, in der Verantwortung, sich selbst zu versorgen. „Zurück zu den Wurzeln“lautet die Idee, die hinter dem Projekt steckt. „Was schaff’ ich selber, was kann ich schaffen“, erläutert Beate Lahner-Ptach den „Erdkinderplan“von Maria Montessori. Die 1952 verstorbene Ärztin und Pädagogin hatte damit in der schwierigen Zeit der Pubertät ein „Studien- und Arbeitszentrum“schaffen wollen, wo Jugendliche fern des Elternhauses zum Erwachsenen heranreifen können (siehe Info). In Wertingen entschied man sich, ein 1500 Quadratmeter großes Grundstück zu kaufen, inklusive eines Hauses, das einer Bauruine glich.
„Baustelle – betreten verboten“heißt es bis heute am Eingang des Geländes. Und tatsächlich wird hier gebaut, gebastelt, gewerkelt, geackert, gesät, geerntet, gekocht, gegessen und geredet. „In Mühlwinkelgesprächen erfährst du Sorgen, Verliebtheit, die ganze Problematik der Jugend sprudelt hoch.“Hier können Beate Lahner-Ptach und ihre Kollegen darauf eingehen. Sie unterstützen, wo nötig und möglich, halten sich ansonsten eher im Hintergrund.
So auch an diesem Tag. Nach dem Morgenritual geht’s ans Verteilen der heutigen Aufgaben. Grundsätzlich darf jeder das anpacken, was ihm Spaß macht, wohin es ihn zieht. „Die individuellen Fähigkeiten, die Motorik und Interessen sind vielfältig“, weiß Lahner-Ptach. Gleichzeitig gebe es Aufgaben, die nötig sind. Wie derzeit die Beseitigung des Unkrauts, das üppig sprießt und andere Pflanzen am Wachsen hindert. „Der Garten und die Pflanzen diktieren uns“, sagt die 49-jährige Lehrerin und künftige Schulleiterin. Danach richtet sich auch der Essensplan. Heute gibt’s Nudelsuppe, Kopfsalat, ein frisches Baguette und Kräuterbutter, dazu selbst kreierte Zitronen-Ingwer-Limonade und einen Pudding zum Nachtisch. Zwei große grüne Salatköpfe liegen bereits im Waschbecken. Die zwölfjährige Chiara zupft die Blätter klein und wäscht sie. In die Soße kommen Brennnessel, Gundermann, Spitzwegerich, Zitronenmelisse, Löwenzahn – „und was wir sonst noch an Kräutern finden“, erzählt Marlies Hammerl. Die 48-jährige Biobäuerin aus Pöttmes kommt wöchentlich einmal in den Wertinger Mühlwinkel, um die Jugendlichen mit ihren Kochkünsten zu inspirieren. Einen Euro zahlen die Schüler pro Tag fürs Essen. Den Rest erwirtschaften sie eigenverantwortlich, durch selbst gepressten Apfelsaft, Marmeladen, eingekochte Rote Bete in Gläsern, gebastelte Ketten, Mandalas aus Holzscheiten und vieles mehr.
Der Garten und das Haus rufen zur Arbeit, zu Herausforderungen und Möglichkeiten, sich kreativ auszuleben. Ein Teil der Schüler nimmt gemeinsam mit der studierten Zusamaltheimer Bio-Landwirtin Lina Schubert zunächst den vorderen Gemüsegarten unter die Lupe. „Der Knoblauch kann in die Küche, danach bitte das Beet durcharbeiten, damit wir Feldsalat für den Herbst aussäen können.“Nach und nach verteilen sich die Jugendlichen auf den Garten und das Haus. Und mit der Arbeit kehrt immer mehr Ruhe auf dem Gelände ein.
Täglich wechseln die Experten, die die Jugendlichen begleiten. Angestellt über das Berufs- und Bildungszentrum (BBZ) geben sie ihr Wissen weiter. Einige kommen einmal wöchentlich, andere täglich während eines Projekts. So bekam die vordere Fassade des Hauses im Frühjahr dieses Jahres endlich eine Farbe. Der BioMaler Matthias Strobl aus Thierhaupten hatte mit den Schülern alten Putz abgeschlagen und mit Pigmenten samt Bindemittel einen neuen natürlichen Drei-Farben-Putz aufgebracht. Zuvor hatten sie Fenster ausgewechselt, und eine schimmlige Innenwand trocken gelegt. An diesem Tag schleifen zwei Jungs das alte Willkommensschild ab. „Grün-orange passt es nicht mehr zur blauen Fassade“, erzählt der zwölfjährige Valentin. Größere Entscheidungen treffen die Jugendlichen grundsätzlich gemeinsam.
Auf dem Weg von der Werkstatt zur Küche befinden sich zwei Toiletten. Eine davon ist momentan gesperrt. An den Wänden haben die Jugendlichen aus selbst gebrannten Fliesen eine Sonne kreiert und andere Mosaike gestaltet. Irgendwann könnte vielleicht ein Café entstehen und Übernachtungsmöglichkeiten für Schulseminare. Ideen gibt es viele. Schritt für Schritt sind diese womöglich zu verwirklichen. Im Dachboden gibt es einen riesigen Webstuhl, in der Ecke liegt der Prototyp einer Hängematte. Im Garten steht ein großes Tipi-Zelt, der Trafoturm wird auch bald zum Gelände gehören. „Da gibt’s die tollsten Pläne“, erzählt Beate Lahner-Ptach, von der Kletterwand bis zur vermieteten Steinwerkstatt. Allen – Schülern wie Lehrern – ist mittlerweile klar, dass es Ideen und Ziele braucht und deren Umsetzung oft lange dauert. Auf dem Gelände geht es nicht ums Fertigwerden. Doch die angefangenen Arbeiten sind an dem jeweiligen Tag zu Ende zu führen.
Bevor das nachmittags passiert, ist erst einmal gemeinsames Mittagessen angesagt. Das findet wie fast immer im „Wohnzimmer“statt. An einem langen Tisch sitzen sie gemeinsam unter einer gemütlichen, selbst gezimmerten Laube und blicken ins Grüne. Der gemauerte Holzofen bleibt an diesem milden Sommertag kalt. Hier backen sie oftmals Brot, Pizzen und Flammkuchen. Zunächst hatten sie einen aus Lehm gebaut. Weil dessen Kuppe irgendwann riss, mauerten sie einen aus Ziegeln. Erfahrungen und Fehler – die darf und muss man im Mühlwinkel machen.
Erfahrungsschule
In der Pubertät geht es darum, den „sozial Neugeborenen“eine ent sprechende Lernumgebung zu bieten. Körperliche Anstrengungen und Rausgehen aus der Hirnlastigkeit er leichtern die körperlichen Umwälz prozesse.
Es besteht ein Bedürfnis, echte Verantwortung übernehmen zu dürfen und Herausforderungen zu be stehen. Bestätigung und Anerken nung für ihre Arbeit erfahren Jugend liche oft, wenn sie etwas praktisch herstellen und Sichtbares schaffen.
Ein entsprechender Lernort als „Erfahrungsschule des sozialen Lebens“entstand im „Mühlwinkel“.