Wie merkt man, dass man erwachsen wird?
Die Freundinnen Nini und Jameelah kennen sich seit zehn Jahren. Plötzlich stellt ein Sommer ihre ganze Welt auf den Kopf und sie müssen mit Problemen fertigwerden, die Kinder eigentlich nicht haben sollten
Schulmilch. Maracujasaft. Weinbrand. „Tigermilch“nennen Nini (Flora Li Thiemann) und Jameelah (Emily Kusche) die wilde Mischung, die sie aus Plastikbechern mit dem Strohhalm in sich hineinschlürfen. Die Zutaten spiegeln den Daseinszustand der beiden 14-jährigen Mädchen wider. Die Milch aus Kindertagen, die langsam zu Ende gehen. Der Alkohol für das Erwachsenendasein, in das sie hineinkatapultiert werden. Und der zuckersüße Fruchtsaft für die Vitalität, mit der sie ihr Teenagerleben auskosten. Schon seit zehn Jahren sind die beiden beste Freundinnen.
Aufgewachsen in den Betonburgen des Berliner Sozialwohnungsbaus. Zwei gegenüberliegende Hausaufgänge. Dazwischen ein Spielplatz mit Rutsche und einer kleinen Hütte drauf zum Verstecken. Stefanie de Velascos „Tigermilch“ist ein Roman, der Eltern von heranwachsenden Mädchen in den Herzinfarkt treiben könnte. Neben dem regelmäßigen Verzehr des titelgebenden Alkoholmischgetränks turnen die beiden 14-Jährigen mit Ringelnylons über den Strich in der Kurfürstenstraße und werden wenige Meter von ihrer Spielplatzrutsche entfernt Zeuginnen eines nächtlichen Mordes. Das klingt nach einem vollkommen übersteuerten Jugenddrama, aber der wilde Plot fügt sich überraschend harmonisch in einen zärtlichen Realismus ein, mit dem Roman wie nun auch die Verfilmung von Ute Wieland auf die innige Freundschaft der Mädchen und deren soziales Umfeld blicken.
Wie viele Filme dieses Genres fängt auch „Tigermilch“mit dem Beginn der Sommerferien an. Die Zeugnisse sind verteilt und sechs Wochen Freiheit breiten sich verlockend vor den Freundinnen aus. Die beiden kommen aus familiären Verhältnissen, in denen „in Urlaub fah- ren“kein gängiges Konzept ist. Ninis Mutter (Gisela Flake) liegt den ganzen Tag auf dem Sofa, während die kleine Halbschwester heimlich am Eierlikör nippt. Ganz andere Sorgen hat Jameelah, die mit ihrer Mutter (Narges Rashidi) vor zehn Jahren aus dem Irak nach Deutschland gekommen ist und um die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis bangt.
Aber all das wollen die Mädchen wenigstens einen Sommer lang vergessen und gemeinsam endlich das Projekt „Defloration“angehen. Jameelah ist unsterblich in Lukas (August Carter) mit den Bambi-Augen verliebt und Nini hat ihren Kindergartenkumpel Nico (Emil Belton) ins Auge gefasst. Was Nini und Jameelah an Familie zu wenig haben, hat ihr gemeinsamer Freund Amir (David Ali Rashed) zu viel. Dass seine große Schwester Jasna (Luna Zimic Mijovic) sich mit einem serbischen Liebhaber herumtreibt, will die bosnische Verwandtschaft nicht akzeptieren, und ihr Bruder Tarik (Alexandru Cirneala) ist entschlossen, die Familienehre mit allen Mitteln zu verteidigen.
Die Qualität von Wielands Film liegt darin, dass sie von all dem ohne sozialkritische Ausrufezeichen erzählt, sich vom Exemplarischen fernhält und narrativ wie visuell in die Perspektive der Teenager eintaucht, für die die multikulturelle Gesellschaft längst Alltag, wenn auch sicherlich keine Idylle ist. Mit dem beobachteten Mord und der drohenden Abschiebung sind es die strukturell bedingten Ereignisse von außen, die die Freundschaft der beiden Mädchen auf eine harte Probe stellen und sie schneller als gewollt ein gutes Stück erwachsener werden lassen. Eine solche Coming-of-AgeDramaturgie kann ganz schnell hölzern wirken, aber das Konzept wird auf der Leinwand mit Leben gefüllt und das ist vor allem dem jungen Ensemble zu verdanken.
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