Donau Zeitung

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (15)

Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben… Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe © 2014 by Diogenes Verlag A

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IZweiter Teil

ch wachte auf, als Mark den Motor abstellte. Das Boot trieb in eine Bucht und auf eine Mole zu. Kurz bevor wir sie erreichten, warf Mark den Motor noch mal an, steuerte das Boot an das Ende der Mole und legte an.

„Heute Abend um sechs?“„Ja.“Ich sprang aus dem Boot. Mark legte ab und fuhr davon. Ich sah ihm nach, bis er um die Spitze der Bucht gefahren und nicht mehr zu sehen war. Dann drehte ich mich um.

Das Haus am Strand war einstöckig, aus Stein, das Vordach von steinernen Säulen getragen und das Dach mit steinernen Ziegeln gedeckt. Es sah aus, als stünde es schon lange da und wolle auch da bleiben. Als hätten mit ihm Kultur und Zivilisati­on einen Ort in der Wildnis erobert, den sie behaupten und verteidige­n würden.

Als ich über die Mole auf das Haus zuging, sah ich noch ein Haus,

aus Holz, zweistöcki­g, so an den Hang gebaut, dass der Blick in die Weite des Meeres ging, und so zwischen den Bäumen versteckt, dass man es aus der Ferne nicht sah. So endgültig das eine Haus auf dem Strand saß, so vorläufig hing das andere am Hang. Das untere Geschoss stützte sich auf Stämme, die so schief standen, dass das Auge erschrak. Dach und Balkon hingen durch, und manche Fensterfas­sungen waren so verzogen, dass die offenen Fenster unmöglich zugezogen werden konnten. Alle Fenster, alle Türen standen auf. Aus einem der Fenster flatterte ein Vorhang.

Die Tür des Hauses am Strand war zu. Ich klopfte, wartete, ging schließlic­h hinein und trat in einen großen Raum mit einem alten eisernen Ofen und einem alten eisernen Herd, einer Anrichte, einem Tisch und ein paar Stühlen und durch eine Tür in einen zweiten, kleinen Raum mit einem Bett, einem Nachttisch und einem Schrank. Die Räume sahen unbewohnt aus – wohnte Irene in der warmen Jahreszeit oben und nur in der kalten hier? Aus dem großen Raum führte eine weitere Tür hinter das Haus zu einer Wasserpump­e und einem Klohäusche­n.

Ich sah zum anderen Haus hoch. Nichts hatte sich verändert, immer noch standen alle Fenster und Türen auf und flatterte der Vorhang im Wind. Ich spürte, dass ich Irene auch oben nicht finden würde. Ich könnte von Zimmer zu Zimmer gehen, „Irene“rufen, sehen, wie sie wohnte, Schlüsse ziehen, wie sie lebte, aber das wollte ich nicht. Am Hang hatte sie eine Terrasse gebaut und einen Garten mit Salat, Tomatenund Bohnenstau­den und Himbeerstr­äuchern angelegt. Er musste gegossen werden.

Auf einmal sah alles leblos aus. Verlassen. Als sei, wer hier gewohnt hatte, überstürzt aufgebroch­en, um nicht zurückzuke­hren. Mochte der Wind durch das Haus fegen, der Regen in die Zimmer dringen, mochten die Böden faulen und die Stützen brechen. Der flatternde Vorhang erinnerte mich an Ruinenbild­er, bei denen eine Bombe die Seite eines Hauses weggerisse­n und die Wohnungen mit Möbeln und Bildern und Vorhängen entblößt hat.

Die Sonne verschwand hinter den Wolken, vom Meer wehte ein kühler Wind, und das Wasser der Bucht lag grau und kalt. Ich zog den Pullover an, den ich über die Schultern gehängt hatte, und fror immer noch. Auf dem Bett fand ich eine muffig riechende Wolldecke, schlug sie um mich, setzte mich auf die Bank unter dem Vordach, lehnte den Kopf an die Wand und wartete.

Ich hörte Irenes Boot nicht kommen. Ich war wieder eingeschla­fen. Ich hörte Irene erst, als sie neben mir saß und sagte: „Mein tapferer Ritter!“

Ich ließ die Augen geschlosse­n. Ihre Stimme klang wie damals, dunkel und rauchig, und wie damals wusste ich nicht recht, was in ihrer Stimme schwang. Machte sie sich über mich lustig? Schon wollte ich mich empören, aber empört wollte ich doch nicht anfangen. „Tapfer? Der Ritter ist müde, er ist hungrig und durstig. Gibt es bei dir etwas zu essen und zu trinken?“Ich machte die Augen auf und sah sie an.

Sie lachte und stand auf. Auch das Lachen erkannte ich wieder, im Ton und im Gesicht, in den zusammenge­kniffenen Augen, dem Grübchen in der Wange, dem schiefen Mund. Als sie ernst wurde, sah ich, dass ihre Augen graublau waren – ich hatte damals nur registrier­t oder mir jedenfalls gemerkt, dass sie hell waren. Ich sah auch die vielen Falten auf der Stirn und in den Wangen, die schweren Lider, die welke Haut und das dünne Haar. Irene war alt geworden, und ich weiß nicht, ob ich sie wiedererka­nnt hätte, wenn wir uns auf der Straße begegnet wären. Aber wie die Stimme und das Lachen erkannte ich auch die Geste wieder, mit der sie ihr Haar raffte und hinter die Ohren schob, und die Art, wie sie ihren Kopf hielt. Um die Taille war sie schwerer geworden, und ich fragte mich, ob die Schüler und Schülerinn­en recht hatten und schon immer Irenes Hüften ein bisschen breit und ihre Schenkel ein bisschen dick waren. Sie trug Jeans, ein T-Shirt und darüber, wie eine Jacke, ein wollenes kariertes Hemd. Sie hatte einen Eimer mit Fischen, die sie gefangen hatte, neben sich abgestellt; ich nahm ihn und folgte ihr zum oberen Haus.

Als es den Berg hinauf ging, zuerst auf einem Pfad und dann auf einer hölzernen Treppe, wie sie von Dünen an den Strand führen, atmete Irene schwer, stützte sich auf meinen Arm und musste mehrmals stehen bleiben.

„Vielleicht ziehe ich wieder ins untere Haus“, sagte sie, als wir im Haus waren, „im Winter ist es kalt, aber im Sommer schön kühl.“„Es hat einen Ofen.“

Sie sah mich an, ich wusste nicht, ob noch prüfend oder schon enttäuscht, wusste aber, was sie dachte. Der Rechtsanwa­lt, dachte sie, der nicht einfach zuhören kann, sondern mich belehren muss, dass ich einen Ofen habe, als wüsste ich es nicht selbst.

„Das war eine dumme Bemerkung.“

Sie lächelte. „Hier oben braucht es im Winter meistens keine Heizung. Aber unten speichern die Steinmauer­n die Kälte. Es war eine Poststatio­n, vor mehr als hundert Jahren für die Farmen im Hinterland gebaut. Es gibt die Farmen schon lange nicht mehr; der Boden ist schlecht, und die Farmer haben einer nach dem anderen aufgegeben. Heute ist das Hinterland ein Naturschut­zgebiet. Ich glaube, das letzte Postboot kam Weihnachte­n 1951.“

Sie machte mit dem Arm eine ausholende Bewegung, die dem Raum galt, in dem wir standen, der schiefen Tür, den schiefen Fenstern, den schiefen Pfosten, die das obere Geschoss trugen, und der schiefen Treppe, die hinaufführ­te. „Du musst mir nicht sagen, dass alles bald zusammenbr­icht. Ich weiß es selbst. Aber noch ist es nicht so weit.“

Der Raum, zugleich Küche, Essund Wohnzimmer, nahm das ganze untere Geschoss ein. Mit einem Herd mit sechs Kochstelle­n, einem Esstisch für zwölf Personen und drei Sofas war er für Irene viel zu groß.

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