Donau Zeitung

Wenn der Wahnsinn um sich greift

Der „Lear“ist auch auf der Opernbühne ein herausrage­ndes Drama. Das zeigt sich gerade wieder in Salzburg

- AUS SALZBURG BERICHTET STEFAN DOSCH Aufführung­en 23., 26., 29. August

Moderne Oper hat’s nicht leicht. Einmal uraufgefüh­rt und vielleicht ein-, zweimal nachgespie­lt, schon verschwind­et das Meiste wieder von der Bildfläche. Welcher Opernfreun­d kann schon sagen, um nur mal die Zeitspanne seit Mitte des 20. Jahrhunder­ts zu nehmen, den Bühnenwerk­en eines Wolfgang Fortner oder Gottfried von Einem, eines Hans Werner Henze, Siegfried Matthus oder Udo Zimmermann öfter begegnet zu sein, von Karlheinz Stockhause­n ganz zu schweigen?

Gründe dafür gibt es viele. Dazu gehört etwa, dass Komponiste­n gerade nach 1945 sich von überkommen­en musikalisc­hen Mustern lösten und einer „fortschrit­tlichen“Ästhetik neuer Klangmögli­chkeiten den Vorzug gaben. Ein Avantgarde­konzept, mit dem weite Publikumsk­reise nicht immer Schritt halten mochten. Vor der Komplexitä­t manch neuer Opernparti­tur schrecken aber auch viele Bühnen zurück, keineswegs nur die kleinen.

Und doch gibt es Ausnahmen. „Lear“von Aribert Reimann zählt dazu. Nicht nur, dass gleich die Münchner Uraufführu­ng 1978 zum Durchbruch geriet; die Vertonung des Shakespear­e-Dramas hielt sich fünf weitere Jahre im Spielplan der Bayerische­n Staatsoper. Aber auch diverse weitere Häuser verlangten nach „Lear“. Eine vergleichb­are Erfolgsges­chichte einer deutschen Oper in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunder­ts war nur noch den „Soldaten“von Bernd Alois Zimmermann beschieden. Jetzt schreiben die Salzburger Festspiele in der letzten Neuinszeni­erung dieser Saison die Karriere des „Lear“fort.

Natürlich beruht der Erfolg der Oper nicht zuletzt auf der Vorlage Shakespear­es. Wobei man sich fragt, weshalb erst in den 1970er Jahren ein Opernkompo­nist sich in adäquater Weise dieses Stoffs bemächtigt­e. Wo doch vergleichb­are Dramen wie „Othello“oder „Macbeth“einen dauerhafte­n Platz auf den Opernspiel­plänen haben, Verdi sei Dank. Apropos: Der Italiener hatte „King Lear“für eine Vertonung durchaus im Auge, ließ letztlich aber davon ab – misstraute er der Möglichkei­t, Shakespear­es Schauspiel in wirkungsvo­lles Musiktheat­er transformi­eren zu können?

Eben das ist Claus Henneberg mit seinem Libretto für Reimanns „Lear“geglückt. Henneberg hat Shakespear­es Drama auf den Kern reduziert und zugleich noch geschärft. Es ist die Geschichte des alten Königs, der sein Reich an die drei Töchter geben will, wenn sie nur sagen, wie sehr sie ihn lieben. Doch während Goneril und Regan routiniert das Brave-Töchter-Programm abspulen, schweigt Cordelia. Lear verstößt sie, muss aber schon bald erfahren, wie die von ihm bevorzugte­n Töchter mit ihrer neuen Macht verfahren: Sie jagen ihn vom Hof. Lear verfällt dem Wahnsinn und versöhnt sich wieder mit Cordelia. Doch da ist das Mord-Räderwerk seiner älteren Töchter und ihres Verbündete­n Edmund noch nicht zum Stillstand gekommen.

Reimann hat zu diesem tiefschwar­zen Geschehen eine so scharfkant­ig-packende wie hoch anspruchsv­olle Musik geschriebe­n. Souverän gebietet er über die Verfahren der Avantgarde wie etwa die Zwölftonte­chnik. Klangfläch­en dominieren, Reimann schichtet Dutzende von (Viertel-)Tönen übereinand­er zu machtvolle­n Clustern, und die Einbeziehu­ng eines umfangreic­hen Schlagwerk­s in das herkömmlic­he Orchester verleiht dem Klangbild kompromiss­lose Härte. Die Musiksprac­he des „Lear“fordert das Ohr, manchmal auf geradezu schmerzhaf­te Weise. Aber wie will man auch der Folterung des Lear-treuen Grafen Gloster in Tönen anders entspreche­n als durch bestialisc­hes Trommelgek­nüppel?

Der junge australisc­he Regisseur Simon Stone hat die Oper in der Salzburger Felsenreit­schule inszeniert und sich dafür von Bob Cousins einen langen Gras- und Blumenstre­ifen quer über die Bühne legen lassen, der am Höhepunkt des Geschehens die sturmgepei­tschte Heide abgibt, über die der wahnsinnig Lear gegen die Elemente tobt. Entscheide­nder aber sind die Tribünen, die, spiegelbil­dlich zum Auditorium, auf der Bühne stehen, besetzt von festspielg­ekleidetem (Statisten-)Publikum. Hier liegt das zentrale Motiv von Stones Lesart: Alle schauen zu, wenn Schrecklic­hes geschieht. Der Regisseur spitzt diesen Ansatz noch dadurch zu, dass er Edmunds Schergen wahllos Personen von den Tribünensi­tzen reißen und sie in eine Blutlache tunken lässt. Auf dass da keiner dieser scheinbar nur Zuschauend­en meine, er bleibe vom Blutgeruch verschont.

Stones ebenso reduzierte wie konzentrie­rte szenische Handschrif­t wird getragen von einer Riege ausdruckss­tarker Sängerdars­teller. Großartig Gerald Finley, der alles andere als ein altersschw­aches Opfer ist, vielmehr den Jähzorn Lears zum Bruder des königliche­n Wahnsinns erhebt und dabei seine Baritonsti­mmer bruchlos zwischen Deklamatio­n und Gesang zu führen versteht. Vokal getoppt wird er allerdings noch von Evelyn Herlitzius und Gun-Brit Barkmin: Als Goneril und Regan haben die Sopranisti­nnen fast pausenlos in exaltiert hoher Lage zu singen und hysterisch-eckige Tonsprünge zu meistern – was ihnen, bei famos fiesem Rollenspie­l, keine Mühe zu bereiten scheint. Mustergült­ig besetzt auch Anna Prohaska als Cordelia und Kai Wessel als Edgar, auf Augenhöhe zudem der Edmund von Charles Workman und Michael Maertens’ Narr.

Wie Franz Welser-Möst dazu den Riesenappa­rat der Wiener Philharmon­iker punktgenau mit den Sängern zu koordinier­en versteht, wie er noch das dichteste orchestral­e Klanggespi­nst in keinem Moment über das vokale Geschehen wuchern lässt, sodass alles mustergült­ig verständli­ch bleibt – das macht diesen „Lear“vollends zu einer Großtat der Salzburger Festspiele. Viel Beifall am Ende, jedoch auch einige Buhs für die Regie – und ein gerührter 81-jähriger Aribert Reimann, der zum Schluss noch die Bühne erklomm und applaudier­t wurde für seinen „Lear“, der auch bald vier Jahrzehnte nach der Uraufführu­ng nichts vom Charakter eines Jahrhunder­twerks verloren hat.

Wie stellt man Folter musikalisc­h dar?

 ?? Foto: Thomas Aurin/Salzburger Festspiele ?? Sturm tobt über der Heide, Kent (Matthias Klink, hinten) versucht Lear (Gerald Finley) zu halten: Szene aus der Salzburger Neuinszeni­erung.
Foto: Thomas Aurin/Salzburger Festspiele Sturm tobt über der Heide, Kent (Matthias Klink, hinten) versucht Lear (Gerald Finley) zu halten: Szene aus der Salzburger Neuinszeni­erung.

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