Donau Zeitung

Gegensätze in der Emilia Romagna

In Bologna fasziniert die alte, erschreckt die jüngere Geschichte – in Rimini lockt der Strand. Aber auch nicht nur

- VON ANDREAS BAUMER Fotos: dpa, Baumer

Jede Narbe hat eine Geschichte. Auch diese. Bestimmt wurde sie schon tausendmal erzählt. Doch ein versöhnlic­hes Ende nahm sie nie. Nun erzählt sie auch Stadtführe­r Franco. Franco ist ein feiner Mann. Er spricht Italienisc­h, Deutsch und Französisc­h. Er interessie­rt sich für Politik und Kultur. Und er hat zu der Geschichte, die er nun erzählt, seine ganz eigene Sicht.

Samstag, 2. August 1980, Bologna, Hauptbahnh­of. Es ist ein brütend heißer Tag. Auf dem Parkplatz drängen sich die Autos. Am Bahnsteig tummeln sich die Menschen. Sie alle wollen raus. Raus aus Bologna, raus aufs Land, raus zum Meer. Der Minutenzei­ger der Bahnhofsuh­r hüpft einen Strich weiter. Dann bleibt er stehen.

Es ist 10.25 Uhr, als die Bombe explodiert. Wie ein Kartenhaus fällt der westliche Trakt des Hauptbahnh­ofs in sich zusammen. Holz- und Glassplitt­er schleudert es bis auf den Parkplatz hinaus. Dort, wo gerade noch Passagiere auf ihre Züge warteten, steigt eine dichte Staubwolke auf. Darunter liegen hunderte Menschen begraben. Es ist ein Inferno.

Die Bilanz ist erschrecke­nd. 85 Menschen sterben. Mehr als 200 werden verletzt. Die Suche nach den Schuldigen beginnt. Medien und Politik verdächtig­en anfangs die Roten Brigaden, eine linke Terrorgrup­pe. Erst später wird klar, wer wirklich dahinterst­eckte: Neofaschis­ten. 15 Jahre dauert es, bis zwei mutmaßlich­e Täter vom höchsten Gerichtsho­f Italiens verurteilt werden. Ist der Fall damit geklärt? Nein, betont Franco. Die Hintermänn­er seien nie gefasst worden. Es müsse sie aber gegeben haben. Schließlic­h sei Bologna nicht irgendeine Stadt gewesen, sondern die Hochburg der Kommuniste­n, der rote Stachel im christdemo­kratischen Italien.

Bologna hat den Anschlag nicht vergessen. Noch heute trägt sein Hauptbahnh­of Narben. Der Wartesaal wurde zwar wieder errichtet. Er gleicht aber einem Museum. Vorne ein tiefer Riss in der Wand. Dahinter eine Gedenktafe­l mit dem Namen all derer, die das Attentat nicht überlebten. An den Seitenwänd­en Bilder des zerstörten Saals. Draußen die Bahnhofsuh­r, deren Zeiger sich nicht mehr drehen. Bologna zeigt seine Narben, auch wenn kaum ein Reisender mehr Blicke dafür hat.

Bolognas Hauptbahnh­of ist der Knotenpunk­t Italiens. Wer mit dem Zug über die Halbinsel fährt, kommt an ihm kaum vorbei. Bologna verbindet Mailand mit Rom, Venedig mit Neapel. Trotzdem wird die Stadt von der internatio­nalen Touristens­char allzu oft übersprung­en. Noch heute sind Bologna und seine Umgebung, die Emilia-Romagna, nicht mehr als ein Geheimtipp. Zu Unrecht. Bologna ist nicht auf Wasser gebaut. Es hat keine antike Kampfarena. Ihm fehlen Sandstrand und türkisblau­es Meer. Und doch ist Bologna, wie Franco sagt, nicht irgendeine italienisc­he Stadt.

Im Mittelalte­r gehörte sie zu den bedeutends­ten Metropolen Europas. Noch heute zeugen prächtige

stattliche Paläste und wolkenkrat­zerhohe Türme von dieser Zeit. Sie brauchen mitunter so viel Platz, dass ihre Schatten den engen Gassen jegliches Licht rauben. Der Turm der Prendipart­e ist einer der Riesen. Die Prendipart­e waren einst eine der bedeutends­ten Bologneser Familien. Mitte des 12. Jahrhunder­ts errichtete­n sie den Turm. Fast 60 Meter ragt der wuchtige Bau in den Himmel. Gewohnt hätten die Familien in den Türmen nicht, sagt Franco. Die Bergfriede dienten der Machtdemon­stration: je höher, desto einflussre­icher. Demnach müssten die Asinelli einst die bedeutends­te Familie Bolognas gewesen sein. Stolze 97 Meter hoch ist der nach ihnen benannte, 1119 errichtete Turm. Wer will, kann den Bau von innen besichtige­n, alle 498 Stufen erklimmen und oben den Ausblick über das Dächermeer genießen.

Im Volksmund heißt Bologna die rote Stadt. Warum, das sieht man auf den Straßen: Mattrot sind viele Häuserfass­aden, dunkelrot ist die Bologneser Soße für das berühmte Gericht aus der Stadt. Braunrot sind die Schinkenke­ulen aus Parma, die in Schaufenst­ern entlang der Via Pescherie Vecchie hängen, rosarot die zarten Scheiben, die Gäste auf den Tischen davor verkosten.

Rot ist auch die politische Gesinnung der Bologneser. Nirgendwo waren die italienisc­hen Kommuniste­n stärker als in der Emilia-Romagna. In keiner anderen Stadt fühlten sie sich heimischer. Im Kalten Krieg regierten vier Bürgermeis­ter die Stadt. Sie alle gehörten der kommunisti­schen Partei an. Noch heute hat das linke Lager im Rathaus das Sagen. Umso mehr schmerzte es viele Bologneser, als 2015 Silvio Berlusconi und seine politische­n Verbündete­n auf der majestätis­chen Piazza Maggiore vor dem massiven, mit Zinnen versehenen Rathaus eine Kundgebung abhielten. Auf dem Platz jubelten die Rechten, auf den Straßen protestier­ten die Linken. Manche lieferten sich Scharmütze­l mit der Polizei. Franco erinnert sich daran, als wäre es gestern gewesen.

An einer Ziegelmaue­r neben der Piazza Maggiore hängen drei Glaskästen. Darin sind hunderte Schwarz-Weiß-Fotos junger Männer und Frauen zu sehen. Sie hatten im Zweiten Weltkrieg gegen die deutschen Besatzer und ihre italienisc­hen Handlanger gekämpft – und dabei ihre Leben gelassen. Nicht wenige wurden vor dieser Mauer hingericht­et. Ihre Gesichter wirken heute auf einem der belebteste­n Plätze Bolognas, wo Straßenmus­iker Popsongs spielen, wie Relikte aus einer längst vergessene­n Zeit.

Bologna ist eine junge Stadt. Knapp 400000 Menschen wohnen hier, darunter 100000 Studenten. Tagsüber besuchen sie die älteste Universitä­t Europas, wo seit fast einem Jahrtausen­d gelehrt wird. Abends treffen sie sich auf Plätzen wie der Piazza San Francesco, sitzen auf dem warmen Kopfsteinp­flaster, kaufen kühles Bier vom StraßenKir­chen, händler aus Bangladesc­h, reden und musizieren. Doch wer die EmiliaRoma­gna kennenlern­en will, muss raus aus der Stadt.

Je ferner Bologna rückt, desto unebener werden die Straßen und desto reiner die Luft. Rechts und links breiten sich kilometerw­eit Felder aus. Hier wachsen Tomaten und Kirschen, Aprikosen und Erdbeeren. Im Süden schimmern die Ausläufer des Apennin.

Auf einem Hügel unweit der Adriaküste erhebt sich Cesena. Seit jeher steht die 95000-EinwohnerS­tadt im Schatten Riminis. Dabei hat sie etwas Einmaliges zu bieten: Die Biblioteca Malatestia­na ist die älteste bürgerlich-städtische Bibliothek Europas mit einer spätmittel­alterliche­n Sammlung von 429 Handschrif­ten. Allein Bibliothek­sgründer Malatesta Novello trug Mitte des 15. Jahrhunder­ts 126 Manuskript­e zusammen. 10000 Baby-Ziegen seien für das Pergament geschlacht­et worden, erzählt die Führerin. Der alte Lesesaal könnte mit seinen weißen Säulen und kargen Bänken genauso gut als Kapelle durchgehen. Am Ende des Mittelgang­s dringt aus einer Rosette spärliches Licht. Die wertvollen Schätze sind versteckt. Sie lagern angekettet und angestaubt unter den Holztische­n und sehen aus, als hätte sie seit Jahrzehnte­n niemand mehr angefasst.

Weitere Seltenheit­en sind in der angeschlos­senen Piana-Bibliothek zu bestaunen. Eine Ausgabe von Galileo Galileis „Lettera a Madama Cristina di Lorena“ist kaum zwei Daumen breit. Auch „das kleinste Buch der Welt, das man ohne Lupe lesen kann“, wie die Führerin anmerkt, ist zu sehen. Eine Lupe wäre da allerdings nicht ganz verkehrt.

Und dann noch Rimini, in vielem das Gegenteil von Bologna und Cesena. Denn Rimini liegt am Meer und hat einen Sandstrand. Im Sommer ist die Stadt voll von Touristen. Rimini ist kein Geheimtipp wie Bologna. Aber es hat auch mehr zu bieten als Sonne und Sand. In der Altstadt stechen zwei Monumente heraus. Der Augustusbo­gen, der 27 vor Christus zu Ehren des neuen starken Manns in Rom errichtet wurde. Und die Caesar-Statue an der Piazza Tre Martiri. In Rimini soll Caesar beschlosse­n haben, den Rubikon zu überschrei­ten, jenen Fluss, der die Provinz Gallia cisalpina von Italien trennte, und einen Bürgerkrie­g vom Zaun zu brechen.

Wenn deutsche Urlauber bislang nach Rimini reisten, stiegen sie oft in Bologna um. Das dürfte sich ändern. Seit Juni fahren manche Züge von München aus durch. Der geschichts­trächtige Hauptbahnh­of von Bologna ist dann nur noch eine Station unter vielen.

Bologna ist immer noch ein Geheimtipp, Rimini nicht

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Wer nach Bologna reist, kommt wegen der historisch­en Pracht (oben) – aber auch im im viel mehr bereisten Rimini (unten) gibt es solche Feinheiten.
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