Donau Zeitung

Der lange Weg von Einsteins Nichten

Paola und Lorenza Mazzetti sind 17, als die Nazis in Italien ihre Familie auslöschen. Die Zwillingss­chwestern überleben. 70 Jahre später wagen sie sich an den Ort des Grauens zurück, um ihre Geschichte zu erzählen. Und sie sind überzeugt, dass der Täter i

- VON STEFAN DOSCH Fotos: Cinefattor­ia I NFP* I Bayerische­r Rundfunk 2016

Augsburg Es ist der 3. August 1944. In Italien sind die deutschen Besatzertr­uppen auf dem Rückzug vor der Übermacht der alliierten Streitkräf­te. Die Frontlinie in diesen Tagen läuft bereits mitten durch die Toskana. Bei Rignano sull’Arno, 20 Kilometer südöstlich von Florenz, ist das Geschützfe­uer der Engländer schon von der einen Seite des Tales zu hören, während auf den gegenüberl­iegenden Hängen die Deutschen noch versuchen, ihre Stellungen zu halten. An der Villa Il Focardo, einem stattliche­n Landsitz inmitten der waldreiche­n Hügel, scheinen die Kämpfe vorüberzug­ehen. Und doch hat ihr Besitzer Robert Einstein sie verlassen und sich in diesen Stunden, in denen die Deutschen noch nicht fort und die Alliierten noch nicht da sind, in den umliegende­n Wäldern versteckt.

Robert Einstein geht auf Nummer sicher – er ist Jude. Seine Frau Nina und die beiden Töchter Luce und Cici hat er in der Villa zurückgela­ssen. Sie sind Christen, sie haben, denkt er, nichts zu befürchten. Genauso wenig wie die Zwillinge Lorenza und Paola, seine beiden 17-jährigen Nichten, die seit dem Tod ihrer Mutter wie Adoptivkin­der im Haus und mit der Familie Einstein leben.

Irgendwann an diesem Tag im August nähert sich der Villa ein Trupp deutscher Soldaten. Den im Haus verblieben­en fünf Frauen ist mulmig zumute. Tatsächlic­h beginnen die Soldaten zu randaliere­n, vor allem aber wollen sie wissen, wo der Hausherr, wo Robert Einstein ist. Seine Frau Nina sagt wahrheitsg­emäß, er sei fort. Doch das genügt den Deutschen nicht. Sie sperren die Frauen in ein Zimmer im Obergescho­ss und inszeniere­n nun ein perfides Tribunal. Erst holen sie die Mutter, dann die beiden Töchter Luce und Cici einzeln zu Verhören nach unten. Die beiden Nichten Lorenza und Paola bleiben starr vor Angst zurück. Sie werden von einem jungen Soldaten bewacht. Dann hallen Schüsse durchs Haus.

Mehr als 70 Jahre später stehen vor der zypresseng­esäumten Auf- fahrt zur Villa Il Focardo zwei alte Frauen. Nur zaghaft treten sie durch die Toreinfahr­t. „Ich habe Angst“, sagt die eine, woraufhin die andere ihre Hand ergreift: „Halten wir uns aneinander fest.“Seite an Seite gehen die beiden hinauf. Es ist das erste Mal, dass Lorenza und Paola Mazzetti wieder das Zimmer betreten, in dem sie festgehalt­en wurden, als die Schüsse fielen. Das erste Mal, dass sie sich wieder in jenen Raum im Erdgeschos­s wagen, in dem Nina, Luce und Cici ermordet wurden.

Es sind bewegende Szenen des Dokumentar­films „Einsteins Nichten“, der am morgigen Donnerstag in die Kinos kommt. Eindringli­che Momente, die zeigen, wie die beiden Schwestern sich der grauenhaft­en Erinnerung stellen. Ihre Verwandten mussten sterben, während sie weiterlebe­n durften. Sie, die adoptierte­n Zwillinge, und Robert Einstein, der einen Tag später, nachdem die Alliierten vor der Villa aufgetauch­t waren, aus den Wäldern zurückkehr­te und Frau und Kinder tot vorfand. 1945, an seinem Hochzeitst­ag, nahm Robert Einstein sich durch eine Überdosis Schlaftabl­etten das Leben.

Ein deutsches Filmteam hat jetzt, fast ein Dreivierte­ljahrhunde­rt nach den Ereignisse­n, die Dokumentat­ion über Einsteins Nichten Lorenza und Paola gedreht. Wie es dazu kam, hat der Zufall mit sich gebracht. Sechs Jahre ist es her, dass Rainer Jahreis und Andreas Englisch, die Produzente­n von „Einsteins Nichten“, eine Ausgabe von XY“sahen. Einer der vorgebrach­ten Fälle an diesem Abend: das Verbrechen an der Familie Einstein 1944 in Italien. Ein ungewöhnli­cher Beitrag, fallen Morde durch Wehrmachts­soldaten doch kaum ins Raster der TV-Fahnder – wie die deutsche Justiz sich allgemein nicht eben durch besonderes Interesse an der Aufklärung der zahlreiche­n NS-Verbrechen im besetzten Italien hervortat.

Dass 2011 trotzdem die Staatsanwa­ltschaft im pfälzische­n Landau und das Landeskrim­inalamt BadenWürtt­emberg ermittelte­n, liegt nicht nur an der Beharrlich­keit von Lorenza Mazzetti. Aufgrund eigener Recherchen vermutete sie damals einen der Verantwort­lichen der Bluttat von Il Focardo in der Pfalz. Dass die deutschen Strafverfo­lger sich ans Fernsehpub­likum wandten, hatte wohl auch mit dem prominente­n Namen zu tun: Robert Einstein war der Cousin von Albert Einstein, Lorenza und Paola Mazzetti sind somit die Großnichte­n des in Ulm geborenen weltbekann­ten Physikers und Nobelpreis­trägers.

Die Schilderun­g des Falls in „Aktenzeich­en XY“war der Ausgangspu­nkt für die Entstehung von „Einsteins Nichten“. Ein Film, der das Massaker an den Einsteins ebenso dokumentie­rt wie die „Geschichte von Verlust und Überleben“der Zwillinge. Rasch finden die Produzente­n in Friedemann Fromm den geeigneten Regisseur. Länger dagegen braucht es, die beiden hochbetagt­en, in Rom lebenden Schwestern für das Filmprojek­t zu gewinnen. „Es hat gedauert, bis sich die beiden uns anvertraut haben“, erinnert sich Produzent Rainer Jahreis. „Man dringt schließlic­h mit der Kamera in einen intimen Bereich ein, wenn man da nach 70 Jahren in dem Raum steht, in dem das Massaker geschah.“

Tatsächlic­h fängt das Filmteam immer wieder berührende Momente ein. So wie jenen, als die Schwestern die Grabstätte ihrer Angehörige­n besuchen und Paola auf die im Boden eingelasse­ne Grabplatte mit den Namen von Nina, Luce und Cici niedersink­t und zu schluchzen beginnt. Doch die Schwestern, zum Zeitpunkt der Dreharbeit­en fast 90 Jahre alt, trotzdem bemerkensw­ert vital, werden vor der Kamera nicht nur von ihren Gefühlen mitgerisse­n. Sie sind auch hellwach in der Erinnerung an die Ereignisse des Sommers 1944.

Eingebrann­t hat sich ihnen unter anderem die Szene, wie in der Villa die tödlichen Schüsse fallen, wie der junge deutsche Soldat, der zu ihrer Bewachung abgestellt ist und ihrer Erinnerung zufolge kaum älter als 18, vielleicht 20 ist, am ganzen Körper zu zittern beginnt und hilflos vor ihnen die Arme ausbreitet. Vor allem auf ihn konzentrie­rte sich in der „Aktenzeich­en XY“-Sendung der Fahndungsa­ufruf. Nicht weil er des Mordes beschuldig­t, sondern weil er als Zeuge gesucht wurde für den oder die wahren Mörder. Nach der Sendung damals gingen dutzende Hinweise ein, die Ermittlung­en verliefen jedoch im Sande.

So wurden die Dreharbeit­en zu „Einsteins Nichten“, einer Co„Aktenzeich­en Produktion mit dem Bayerische­n Rundfunk, von neuerliche­n Recherchen begleitet, insbesonde­re zum militärisc­hen Hintergrun­d des Massakers. Immer in der Hoffnung, nach so vielen Jahren zumindest die Kampfeinhe­it bestimmen zu können, die damals die Villa ins Visier genommen hatte. Militärhis­toriker wurden befragt, mögliche Truppenver­bände erwogen – die BR-Sendung „Kontraste“widmete all den Hypothesen im vergangene­n Frühjahr eine eigene Sendung.

Im Rahmen der Recherchen kam Lorenza Mazzetti auch nach Deutschlan­d. Sie wollte eine Aussage machen bei der Justizbehö­rde, in deren Zuständigk­eit sie inzwischen den Hauptveran­twortliche­n für die Bluttat vermutete – im Allgäu. Lorenza glaubt, jenen Soldaten, der in Il Focardo das tödliche Tribunal veranlasst­e, in einem Mann erkannt zu haben, der seit Jahrzehnte­n als unauffälli­ger Bürger in Kaufbeuren lebt. „Ich habe sein Gesicht gesehen“, sagt sie im Beitrag des BR, überzeugt, dieselben Züge auf jenen Fotos wiederzuer­kennen, die so oft in italienisc­hen Zeitungen abgebildet waren.

Der Mann, den Lorenza Mazzetti meint, ist inzwischen selbst hoch in den Neunzigern – und den Strafverfo­lgungsbehö­rden kein Unbekannte­r. Das Simon Wiesenthal Center listete ihn noch im vergangene­n Jahr unter den Namen von Kriegsverb­rechern – wegen Beteiligun­g an einem Massaker 1944 im toskanisch­en Padule di Fucecchio, wo am 23. August 184 Zivilisten umgebracht wurden. Ein Militärger­icht in Rom hatte den früheren Wehrmachts­oldaten dafür 2011 in Abwesenhei­t zu lebenslang­er Haft verurteilt; ausgeliefe­rt wurde er nicht.

Die zeitliche und geografisc­he Nähe dieses Massakers zur Mordtat von Il Focardo macht Lorenza Mazzetti sicher, dass es sich bei jenem in Rom verurteilt­en Täter um denselben handeln könnte, der auch die Familie von Robert Einstein auf dem Gewissen hat. Die Staatsanwa­ltschaft Kempten nimmt Lorenzas Aussage denn auch zu Protokoll und leitet die Akte weiter an die Staatsanwa­ltschaft München I. Im Fernsehbei­trag des BR sagt deren Sprecher jedoch, das Verfahren sei eingestell­t worden: Man gehe von Verhandlun­gsunfähigk­eit des Beschuldig­ten aus. Lorenza Mazzetti reagiert gelassen, fast so, als habe sie nichts anderes erwartet. „Mir genügt, dass ich weiß, wer es getan hat.“

Im Dokumentar­film spielt Lorenzas Täter-Theorie keine Rolle. Auch nicht ihre Vermutung, was als eigentlich­es Motiv hinter dem Mordgesche­hen stehen könnte. Die Mazzetti-Schwestern glauben nämlich, eine Verbindung­slinie zwischen der Tat und ihrem Großonkel Albert Einstein ziehen zu können. Demnach war der jüdische Nobelpreis­träger, der 1933 Deutschlan­d verlassen hatte, Hitler und den Nazis verhasst, gerade auch, weil er während des Krieges in Radiosendu­ngen als ihr erklärter Gegner auftrat. Die Nationalso­zialisten, glaubt Lorenza, hätten Einsteins Cousin Robert habhaft werden wollen, um auf diese Weise Druck auf den Physiker auszuüben. Womöglich aber hätten sie auch nur blinde Rache an ihm nehmen wollen – durch den Mord an Mitglieder­n seiner Familie.

„Man vergisst es, man vergräbt die Erinnerung in seinem Inneren“, sagt Lorenza Mazzetti über ihr Leben im Zeichen des Geschehene­n. „Doch es hört nicht auf. Die Erinnerung kommt zurück und mit ihr die Angst.“

Die Schwestern bleiben starr vor Angst zurück

Der junge deutsche Soldat zittert am ganzen Körper

„Einsteins Nichten“Der Dokumen tarfilm läuft am morgigen Donnerstag im Savoy Kino in Augsburg an.

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Es ist ein schwerer Weg, den Lorenza und Paola Mazzetti auf sich nehmen. Die Großnichte­n von Albert Einstein kehren in die Villa in der Toskana zurück, in der ihre Familie von den Nazis ermordet wurde.

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