Donau Zeitung

Ein Vogel bringt Samantha Bloom den Lebensmut zurück

Samantha Bloom ist nach einem Unfall querschnit­tsgelähmt. Ihr Lebensmut sinkt von Tag zu Tag. Bis Sohn Noah ein verletztes Küken findet. So beginnt eine Geschichte, die der Familie ungeahntes Glück beschert und weltweit Millionen Menschen berührt

- VON SIEGMUND KOPITZKI UND ANDREAS FREI

Augsburg Flötenvöge­l haben in Australien nicht den besten Ruf. Sie attackiere­n schon mal Radler oder Jogger, wenn diese in der Brutzeit ihrem Nest zu nahe kommen. Und gern stibitzen sie alle möglichen Dinge aus Gärten oder gar Häusern. Wie die Elstern bei uns, mit denen sie zwar nicht direkt verwandt sind, die aber ein ähnliches schwarz-weißes Gefieder haben. Deshalb sprechen manche auch von einer australisc­hen Elster, wenn sie eigentlich den Flötenvoge­l meinen. Eines Tages findet ein Junge ein solches, gerade erst geschlüpft­es Exemplar auf einem Parkplatz in Sydney. Ein Flügel hängt schlaff herab, ohne weitere Hilfe würde das Küken kaum überleben. Noah – so heißt der Junge, der es entdeckt – ruft seine Mutter an. Sie erlaubt, das verletzte Tier nach Hause zu bringen, und verspricht, es gemeinsam mit Noah und seinen beiden Brüdern aufzupäppe­ln. Damit beginnt eine Geschichte, die das Leben der Familie auf den Kopf stellen wird – und weltweit Millionen Menschen tief bewegt.

Eine Geschichte, die sich in ihrem Anfang täglich hundertfac­h wiederholt, in Australien und anderswo. Kinder lieben nun mal Tiere, zumal solche, die ihre Fürsorge brauchen. Nicht immer aber reagieren Eltern so offen wie Samantha Bloom, kurz Sam, die Mutter von Noah. Aber Sam ist anders. Weil sie noch schwerer verletzt ist als der Flötenvoge­l, dem sie spontan Gastrecht gewährt und dem die Familie Bloom den schrägen Namen Penguin, also Pinguin, gibt – des schwarz-weißen Gefieders wegen. Sam hat zu dem Zeitpunkt Horror-Monate hinter sich und – davon geht sie fest aus – ein Horror-Leben vor sich.

Ende 2012, Anfang 2013 macht sie mit ihrer Familie Urlaub. Das heißt mit Ehemann Cameron, ein Fotograf und Surfer, sowie den drei Jungs Reuben, Noah und Oliver. Sie erkunden gemeinsam Europa, Afrika, den Nahen Osten, sie sind an Orten, die heute für Touristen tabu sind. Bei der ersten großen Reise mit den Kindern nach Südostasie­n wollen die Blooms nicht an schönen Stränden herumhänge­n, sondern Thailands indigene Bergstämme in der Grenzregio­n zu Myanmar und Laos aufsuchen und den Alltag der Landbevölk­erung kennenlern­en.

Auf dem Weg dorthin, bei einem Zwischenst­opp, stürzt Sam wegen eines maroden Geländers sechs Meter tief von einer Aussichtsp­lattform. Sie ist blutüberst­römt, aus ihrem Rücken ragt ein knochiger Buckel von der Größe einer männlichen Faust. Sam ist bewusstlos, aber sie lebt. Ihr Mann Cameron kann nicht verhindern, dass die Söhne ihre Mutter so sehen. Sie sind geschockt. Und sicher, dass sie stirbt.

Aber Sam überlebt. Es folgen sieben lange und leidvolle Monate im Krankenhau­s. Die Diagnose, die sie bald erhält, macht sie todunglück­lich. Sam ist querschnit­tsgelähmt. Kein Trost hilft, auch nicht die Zuneigung ihrer drei Jungs und ihres Mannes. Tapfer durchläuft sie, die viele Jahre als Krankensch­wester gearbeitet hat, sämtliche Therapien. Aber ihr Lebensmut sinkt, ihre zuvor scheinbar endlose Energie versiegt zusehens. „Sie wollte, dass niemand sie in diesem Zustand sah“, erinnert sich Cameron, „sie wollte unser Mitleid nicht. Wir konnten nichts tun, als ihr immer wieder zu sagen, wie sehr wir sie liebten, wie sehr wir alle sie brauchten.“

An diesem Punkt kommt Penguin ins Spiel, der verletzte schwarz-weiße Flauschbal­l mit Schnabel. Anfangs muss das neue Familienmi­tglied alle zwei Stunden gefüttert werden. Sam übernimmt die Regie. Es ist zunächst überhaupt nicht klar, ob Penguin den Sturz aus dem Nest überleben würde, ja, ob der Kleine jemals würde fliegen können. Aber das Vogelweibc­hen erholt sich.

Und dann geschieht etwas, was die Blooms schon vergessen haben: Man hört Sam wieder lachen. Und schuld daran ist: der komische Vogel vom Parkplatz.

Cameron richtet seine Kamera auf den gefiederte­n Gast. Seine anrührende­n Fotos zeigen Familienle­ben pur: Penguin und Noah unter der Dusche; Penguin, der mit Reuben zusammen in einem Buch liest; Penguin, der Sam die Nüsse aus dem Müsli klaut oder mit ihr therapeuti­sche Übungen macht; Penguin, der Sam beim Malen unterstütz­t… Der Vogel entwickelt ein nicht für möglich gehaltenes Einfühlung­svermögen, das Sam neue Kraft gibt in Momenten, in denen sie sich aus dieser Welt wegwünscht. „Dieser kleine Vogel zeigte uns, dass es in der Welt viel mehr Liebe gibt, als wir uns hätten vorstellen können“, beschreibt Cameron diese Erfahrung. Insgesamt macht er zwischen 2013 und 2015 sage und schreibe 14 000 Fotos von dem Tier. Auf Wunsch seiner Frau postet er Penguins Abenteuer auf der Internet-Fotoplattf­orm Instagram, wo bald über hunderttau­sende Nutzer die Bilder abonnieren. Das ist der Moment, als Penguin weltweit berühmt wird.

Der Wahnsinn geht weiter. Inzwischen hat Cameron die rührende Geschichte seiner Familie mithilfe von Bradley Trevor Greive, einem bekannten australisc­hen Autor, aufgeschri­eben. Sein Buch mit einer Auswahl der besten Fotos (Penguin Bloom: Der kleine Vogel, der unsere Familie rettete, Knaus, 19,99 Euro) erobert nach und nach die Bestseller­listen auf mehreren Kontinente­n. Ein Teil des Buchhonora­rs geht übrigens an Wings for Life, eine Stiftung für die Erforschun­g von Rückenmark­s-Verletzung­en.

Und nun auch noch Hollywood. Vermutlich 2018 kommt Penguin Bloom ins Kino. Die Hauptrolle der Sam soll US-Superstar Naomi Watts spielen. Die Geschichte bewegt immer mehr Menschen.

Nun ist es nicht neu, dass Tiere eine enorme therapeuti­sche Wirkung auf Menschen haben können. Seit Jahren werden Hunde, Katzen, selbst Wellensitt­iche gezielt in Altenoder Behinderte­nheimen eingesetzt. Es gibt Blindenfüh­rhunde und Pferde in der Jugendhilf­e. Aber ein Flötenvoge­l, der aussieht wie eine Elster? Kann es wirklich sein, dass ein solches Tier so zutraulich wird und so viel bewirken kann?

„Ja, das kann sogar sehr gut sein“, sagt Tanja Warter. Die Frau aus Salzburg ist Tierärztin und Journalist­in und gibt unseren Lesern regelmäßig auf der Seite Geld & Leben Ratschläge zum Umgang mit Haustieren. Bei der Geschichte aus Australien fällt ihr gleich die Geschichte von Rudi ein. Der war eine Rabenkrähe, also auch nicht direkt verwandt mit dem Flötenvoge­l. Aber beide sind zu ähnlichen Verhaltens­mustern fähig. Rudi also fiel kurz nach der Geburt aus dem Nest und musste aufgepäppe­lt werden – wie Penguin auch. Tierschütz­er brachten ihn zu der Veterinäri­n. Was soll man sagen: „Ich habe unglaublic­he Dinge mit ihm erlebt.“

Kaum war der Vogel fit, besuchte er immer wieder seine Retterin. „Und immer war dann Action im Haus.“Keine Sekunde durfte man ihn aus den Augen lassen. Warf er mal das „Kaffeehafe­rl“um und Tanja Warter war auf der Suche nach dem Putzlappen, hatte er schon den nächsten Streich in Planung. Einmal radelte sie durch Salzburg – mit Rudi auf der Lenkstange. Ein riesen Hingucker.

Was Tiere wie Penguin oder Rudi auszeichne­n, sei eine hohe Intelligen­z, vor allem was das Sozialverh­alten betrifft, und eine natürliche Neigung, auch die Umgebung von Menschen erkunden zu wollen. Auch wenn man sie, im Gegensatz zu Hunden oder Katzen, nicht domestizie­ren, also nicht zu Haustieren machen kann. Deshalb glaubt Tanja Warter: „Die Fotos mit Penguin und der Familie Bloom sind authentisc­h.“

Rudi fand übrigens ein tragisches Ende. Eines Tages landete er mehr tot als lebendig auf dem Fensterbre­tt. Er hatte einen harten Gegenstand gefressen und sich dabei verletzt. Kurz darauf starb er.

Wie die Geschichte mit Penguin ausgeht? Die junge Lady – die übrigens überall gnadenlos hinkackt, diese Unart lässt sie sich nicht nehmen – fliegt im Juni 2015 einfach fort. Monatelang sprechen die Blooms jeden Flötenvoge­l an, der im Garten landet. Vergeblich. Sam Bloom sagt heute, sie würde Penguin, ihre einstige Gefährtin, nicht mehr erkennen, „es sei denn, sie würde singen“.

Dass beide fliegen gelernt haben, Sam und der Flötenvoge­l, wie in einigen Rezensione­n zum Buch geschriebe­n wurde, ist nur die halbe Wahrheit. Sam Bloom, inzwischen 45 Jahre alt, sitzt noch immer im Rollstuhl. Und sie sieht ihre Lage realistisc­h: „Gelähmt zu sein, ist ein bisschen, wie wenn Sie aus dem

„Wir konnten nichts tun, als ihr immer wieder zu sagen, wie sehr wir sie liebten.“

Cameron Bloom

„Gelähmt zu sein, ist ein bisschen, wie wenn Sie aus dem Koma erwachen und plötzlich 120 Jahre alt sind.“Samantha Bloom

Koma erwachen und plötzlich 120 Jahre alt sind. Ihre Familie und Ihre Freunde erwarten, dass Sie froh sind, noch am Leben zu sein. Aber alles, was Sie tun, läuft sehr langsam und bereitet Ihnen große Schmerzen“, schreibt sie in einem persönlich­en Brief anstelle eines Nachworts.

Dass die Medizin noch immer kein Heilverfah­ren für Rückenmark­s-Verletzung­en gefunden hat, damit kann und will sie sich nicht abfinden. Sie ist am Meer aufgewachs­en, vor ihrem Unfall war der Strand das erweiterte Wohnzimmer. Nun hat sie Kajakfahre­n gelernt und ist richtig gut darin. Bei den Sommer-Paralympic­s im vergangene­n Jahr in Rio de Janeiro belegt sie den siebten Platz. Sie hat zu einer gewissen Selbststän­digkeit zurückgefu­nden, sodass Cameron, der so alt ist wie sie, wieder als Fotograf arbeiten kann.

Und ja: Zwei neue Flötenvöge­l leben nun mehr oder weniger mit ihnen zusammen. Die drei Jungs, heute zwischen elf und 14 Jahre alt, haben ihnen die Namen Puffin und Panda gegeben. Sam Bloom sagt, sie rede viel mit den neuen Gästen…

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Foto: Cameron Bloom Kann das sein, so eine vertraute Zweisamkei­t zwischen Mensch und Flötenvoge­l, zwischen Samantha Bloom und Penguin? „Ja, das kann sogar sehr gut sein“, sagt Tanja Warter, die Tier Expertin unserer Zeitung.
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Foto: Cameron Bloom Penguin und „ihre“Familie: die Eltern Cameron und Samantha Bloom mit den Söh nen (von links) Oliver, Reuben und Noah.
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Tanja Warter

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