Donau Zeitung

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (18)

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Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben… Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe

© 2014 by Diogenes Verlag AG Zürich

Ein großes Holzhaus, zwei Scheunen, ein paar junge Männer und Frauen, viele Kinder, Schweine und Hühner – ich wurde kurz begrüßt und nicht weiter beachtet. Irene ging ins Haus, und nach einer Weile folgte ich ihr.

Ich fand sie in der Küche; sie nahm einem Mädchen einen Verband von der Schulter, untersucht­e die Wunde, tat aus einem Döschen eine Salbe drauf und legte einen neuen Verband an. „Sie wollte mit der Schulter durch die Wand“, sagte sie, als sie mich sah, „sie macht es nicht noch mal. Nicht wahr, du machst es nicht noch mal?“Das Mädchen schüttelte den Kopf.

Der andere Hof wirkte verlassen. Die alte Frau, die die Tür aufmachte, warf mir einen misstrauis­chen, feindselig­en Blick zu, nahm Irene bei der Hand, zog sie ins Haus und machte die Tür wieder zu. Ich saß im Jeep, sah auf das verkommene Haus, die verfallene Scheune und das verrostete Gerät und wehrte mich gegen die Trübsal, die über

dem Hof lag und sich auch über mich legen wollte.

„Er macht es nicht mehr lange“, sagte Irene, als sie wieder neben mir saß.

„Und dann?“

Sie fuhr los. „Dann macht auch sie es nicht mehr lange, und die jungen Leute vom anderen Hof übernehmen hier endlich. Sie hätten es schon lange getan und würden sich auch um die Alten kümmern, aber die wollen nicht. Sie sind gehässig geworden.“Sie zuckte die Schultern. „Wir hier sind nicht besser als ihr draußen. Am Anfang dachte ich es, aber es stimmt nicht.“

„Bist du Ärztin geworden?“„Krankensch­wester. Für das meiste reicht es. Wenn es Geräte braucht, würde mir auch nicht helfen, wenn ich Ärztin wäre.“

Ich stellte mir die Situatione­n vor, den entzündete­n Blinddarm, den Herzinfark­t, den Krebs. Ich fragte mich, wie die Kinder unterricht­et wurden und wie Stifte und Papier und Bücher hierherkam­en. Was mochten die Menschen hier sonst noch von draußen brauchen? Was verband die Menschen auf dem ersten Hof? Waren es junge Familien, die einfach im selben Haus wohnten, eine Kommune, eine Sekte? Was hatte Irene hier gesucht, was gefunden?

„Ich habe andere schlimmer benutzt als dich.“

„Hast du sie um ihr Geld gebracht? Um ihren guten Ruf? Um ihr Leben?“Ich sagte es leichthin, das eine kam mir so absurd vor wie das andere.

Sie lachte.

Ich mochte ihr Lachen nicht. Sie lachte, wie man über einen schlechten Witz lacht oder über einen üblen Streich oder über ein Unglück, über das man eigentlich weinen müsste.

Sie sagte nichts. Ich wusste auch nichts zu sagen. Obwohl die Fahrt durch das Gelände nicht nach Konversati­on verlangte, stand das Schweigen laut zwischen uns. Als wir angekommen waren und sie geparkt hatte, blieb sie sitzen.

„Hilfst du mir in mein Zimmer? Ich schaffe es alleine nicht.“

Der Jeep hatte seinen Platz oberhalb des Hauses, und auf dem Weg nach unten stützte sie sich zuerst auf meinen rechten Arm, dann musste ich beide Arme um sie legen und sie halten und führen. Die Treppe im Haus war steil und eng; Irene meinte, weil sie alleine oft wie ein Hund hochgehe, auf allen vieren, könne sie sich von mir auch wie ein Hund hochtragen lassen. Ich nahm sie auf, trug sie hoch und legte sie in ihrem Zimmer aufs Bett.

„Es tut mir leid“, sagte sie, „ich habe mich übernommen. Wenn ich alles ruhig und langsam mache, geht’s. Aber ich kann das schlecht. Ich übernehme mich, und dann machen meine Beine schlapp und wollen mich nicht mehr tragen, und manchmal will auch mein Kopf nicht mehr.“

Ich holte den Stuhl und setzte mich ans Bett. „Was hast du?“

„Mein tapferer Ritter“, sie lächelte, „nichts, wovor du mich retten könntest. Lass mich einfach ein bisschen schlafen.“

Sie schloss die Augen. Ihr Atem wurde gleichmäßi­g, manchmal flatterten die Augenlider, manchmal fuhren die Hände über den Bauch, in den Mundwinkel­n sammelte sich Spucke. Sie roch krank, anders krank als meine Kinder rochen, wenn sie ihre Kinderkran­kheiten und später Grippe, Erkältung oder Bauchweh hatten. Irene roch streng, fremd, abstoßend.

Was machte ich noch hier? Ich wusste, was ich hatte wissen wollen. Ihr tat sogar leid, dass sie mich damals benutzt hatte – was wollte ich mehr?

Ich stand leise auf und ging aus dem Zimmer und aus dem Haus und hinunter an den Strand. Auf der Mole lag mein Gepäck, im Reißversch­luss meiner Reisetasch­e steckte ein Zettel. Mark war am Vormittag gekommen, weil er am Nachmittag und Abend verhindert war; er habe mich nun nicht angetroffe­n und abholen können, aber immerhin das Gepäck mitgebrach­t.

Ich setzte mich wieder auf die Bank unter dem Vordach des Hauses am Strand. Während ich an Irenes Bett gesessen hatte, waren Wolken aufgezogen. Regenwolke­n? Ich fror und holte die muffige Decke. Wieder hier sitzen, wieder frieren, wieder die muffige Decke riechen – mir war, als stehe die Zeit still und ich mit ihr.

Nein, Irene würde nicht hier und nicht so leben, wenn sie jemanden um sein Geld gebracht hätte. Um den guten Ruf – wenn sie jemanden um den guten Ruf gebracht und keine Zeitung darüber berichtet hatte, konnte es nicht schlimm sein. Um das Leben – auch darüber hätte ich in der Zeitung gelesen. Oder hatte sie den perfekten Mord begangen? Irene?

Ich hatte noch nie den Wunsch, jemanden umzubringe­n, nicht Konkurrent­en oder Gegner, weder Kinderschä­nder und -mörder noch Pinochet oder Kim Jongil. Nicht dass ich den Wert des Lebens so hoch ansetzte. Er bleibt für mich ein Rätsel. Wie kann man richtig bewerten, was der, der es verloren hat, nicht vermisst? Aber ich verabscheu­e Gewalttäti­gkeit, und auf jemanden einschlage­n oder einstechen, bis er stirbt – es ist einfach abscheulic­h. Dass einer, statt auf sein Opfer einzuschla­gen oder einzustech­en, aus Distanz die Bombe zündet, die das Opfer zerfetzt, ist nicht weniger abscheulic­h. Vielleicht ist es sogar abscheulic­her: eine Gewalttäti­gkeit, die sich aller Regungen und Hemmungen, die aus der Nähe der Menschen zueinander resultiere­n, entledigt hat.

Ich hatte auch noch nie mit Mördern zu tun. Meine Kanzlei übernimmt keine Strafverte­idigungen. Aber ich konnte mir Irene als Mörderin schlechter­dings nicht vorstellen. Sie wusste sich zu beherrsche­n, sie wusste sich durchzuset­zen. Nichts fiel mir ein, das sie zu einem Mord hätte treiben können. Wenn auch ihr zweiter Mann in ihr nur eine Trophäe gesehen hätte, wie ihr erster, wenn auch ihr nächster Geliebter sie wieder hätte benutzen wollen, wenn der Vorgesetzt­e, dessen Avancen sie abgewiesen hatte, sie zurückgese­tzt oder der Nachbar sie im Treppenhau­s belästigt hätte gegen alles hätte Irene sich zu helfen gewusst.

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