Skandinavien als Vorbild?
Das deutsche Pflegesystem steht seit Jahren in der Kritik. In Nordeuropa wird mehr Geld dafür ausgegeben. Davon profitieren alle: Senioren, Angehörige und die Profis
Stockholm Die Pflege in Skandinavien erscheint vielen im Vergleich zu deutschen Verhältnissen nahezu bilderbuchhaft. Ein Paradebeispiel dafür findet sich etwa im Zentrum der Kleinstadt Svendborg auf der dänischen Ostseeinsel Fünen. Dort liegt ein kommunales Demenzdorf. Es soll Demenzkranken ein weitgehend normales Leben ermöglichen.
Immer mehr Menschen werden dement. Gleichzeitig sind sie aber noch ausgesprochen rüstig. Daheim können sie oft nicht mehr versorgt werden. Für Pflegeheime sind sie wiederum körperlich zu fit. „Wir füllen diese Lücke mit unserem Demenzdorf“, sagt Svendborgs Bürgermeister Lars Horneman. In 125 Haushalten leben derzeit 225 Bewohner. Ein Zaun um das Dorf herum verhindert, dass sich die Bewohner verirren. Es gibt ein Restaurant, eine Musikbibliothek, Geschäfte, darunter einen Friseur und einen Wellness-Salon. Ein großer Garten zum Selbstanbauen steht zudem zur Verfügung. Auch für die strapazierten Angehörigen ist die Begegnung mit ihren Lieben in der dörflichen Umgebung einfacher.
„Alles ist normaler und das tut al- gut“, sagt Horneman. Auch hat man das Essen aus den Großküchen für Pflegeheime verbannt. Stattdessen werden die Mahlzeiten frisch vor Ort ohne Fertigbestandteile zubereitet – und die Demenzkranken können mitkochen.
Gut ausgestattet sind auch die sogenannten Servicehäuser im benachbarten Schweden. Sie sind eine Mischform aus schönen Wohnungen und Heim. Halbwegs rüstige Pflegebedürftige führen dort ihren eigenen Haushalt, die Betreuung ist aber engmaschiger als in der ambulanten Pflege. All das klingt nach einem teuren Spaß für Besserverdienende, aber es kostet die Pflegebedürftigen nicht mehr als in den herkömmlichen Pflegeeinrichtungen. Angehörige werden nie zur Kasse gebeten. Jeder, der im Einzugsgebiet gemeldet ist, kann dort einen Platz bekommen, egal ob arm oder reich.
Demenzdörfer und Servicehäuser werden, wie die meisten Pflegeeinrichtungen in Skandinavien, kommunal und ohne Gewinninteresse betrieben. Die vielen kommerziellen deutschen Pflegeunternehmen müssen hingegen Gewinne machen, um überleben zu können. Da rückt die Situation für Gepflegte und Pfleger oft in den Hintergrund. Das deutsche Pflegesystem baut traditionell zu großen Teilen auf dem Engagement der Familienangehörigen und deren Geldbeutel auf. Vor allem Töchter und Ehefrauen tragen oft pflegerisch die Last. Die staatlich finanzierten Leistungen sollen bei uns die Pflege durch Angehörige nur unterstützen. Es ist ein Teilkaskosystem, während in Skandinavien die Pflegekosten weitestgehend öffentlich, und zwar über Steuern, finanziert werden, sagt PflegeExpertin Cornelia Heintze, die für die SPD-nahe Friedrich-EbertStiftung eine vergleichende Studie beider Systeme angefertigt hat. Darin kommt sie zu dem Ergebnis, dass die Pflege in den staatlich geprägten Wohlfahrtsländern Dänemark, Norwegen und Schweden besser funktioniert als in Deutschland.
Wie auch der Straßenbau und die Polizei wird die Pflege als eine zentrale Aufgabe des nationalen Allgemeinwohls angesehen, die dem Staat obliegt. „Wir erwarten so etwas von unserem Staat. Dass Angehörige einspringen müssen, ist völlig indiskutabel in Norwegen“, sagt Christine Martens, Altenpflege-Expertin an der Universität Oslo.
Die Nordländer lassen sich ihr Pflegesystem aber auch mehr koslen ten. Während in Deutschland nur 1,1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für die langfristige Pflege verwendet wird, sind es in Schweden um die 3,7 Prozent, in Norwegen 3,1, in Finnland und Dänemark 2,5 Prozent. Abgaben für eine Pflegeversicherung gibt es nicht, aber die Steuerquoten sind auch für Normalverdiener etwas höher als in Deutschland. Es wird viel mehr Geld für Pflege und soziale Unterstützungsleistungen ausgegeben. Dies ermöglicht es etwa, in den Heimen bezogen auf eine gleiche Anzahl von Bewohnern im Schnitt rund dreimal so viel Personal einzusetzen wie in Deutschland, sagt Heintze.
Zwar gibt es auch in Skandinavien Privatisierungsbestrebungen und private Akteure, die vom Staat für ihre Pflegeleistungen bezahlt werden. Bislang sind sie aber die Minderheit. Zudem reagieren Medien und Öffentlichkeit sehr sensibel auf Missstände. Die rot-grüne Regierung in Stockholm etwa möchte die Sozial-Gewinne beschränken. Nicht mehr als acht Prozent Gewinn sollen private Firmen ausschütten, die auf staatliche Rechnung Sozialeinrichtungen betreiben. Was darüber hinausgeht, soll reinvestiert werden.