Donau Zeitung

Als der Terror Deutschlan­d erschütter­te

Am 5. September 1977 entführte ein RAF-Kommando Arbeitgebe­rpräsident Hanns Martin Schleyer. Was folgte, war ein wochenlang­er Nervenkrie­g – und ein dramatisch­es Stück Geschichte. Warum der „Deutsche Herbst“bis heute nachwirkt

- VON SIMON KAMINSKI

Augsburg Und dann ist es plötzlich still. Totenstill. Nach dem ohrenbetäu­benden Lärm, nach weit über 100 Schüssen, die am 5. September 1977 um 17.28 Uhr durch die Kölner Vinzenz-Statz-Straße im vornehmen Stadtteil Lindental peitschen. Nur wenige Sekunden zuvor haben sich dort Szenen wie in einem Mafia-Thriller abgespielt: Als der Konvoi mit Arbeitgebe­rpräsident Hanns Martin Schleyer die Straße erreicht, schnappt die Falle des Kommandos der Roten Armee Fraktion (RAF) zu: Ein Kinderwage­n rollt auf die Straße, aus einer Einfahrt setzt ein Mercedes zurück. Schleyers Fahrer steigt auf die Bremse, das folgende Begleitfah­rzeug kracht in den Wagen. Dann bricht die Hölle los. Die Terroriste­n Sieglinde Hofmann, Willy-Peter Stoll, Stefan Wisniewski und PeterJürge­n Boock eröffnen das Feuer.

Die Polizisten Helmut Ulmer, Roland Pieler und Reinhold Brändle haben keine Chance. Ulmer und Pieler erwidern zwar das Sperrfeuer der Angreifer, werden aber ebenfalls tödlich getroffen. Schleyers Fahrer Heinz Marcisz erliegt später seinen Verletzung­en. Der Arbeitgebe­rpräsident drückt sich flach hinter den Vordersitz und überlebt den Kugelhagel wie durch ein Wunder unverletzt. So zerren die Attentäter den 62-Jährigen aus seinem durchlöche­rten Wagen: Auf Schleyer wartet ein 43-tägiges Martyrium in der Hand der Terroriste­n. Seine Leiche wird am 19. Oktober im elsässisch­en Mühlhausen mit mehreren Projektile­n im Kopf gefunden.

Es gibt wenige Bilder, die sich so intensiv in das Gedächtnis der Deutschen eingebrann­t haben: der Kinderwage­n, die verkeilten Autos, die Toten und natürlich die Fotos von Hanns Martin Schleyer als Gefangener der RAF. Bilder der Hilflosigk­eit und der Erschöpfun­g.

Eindringli­ch blieb vielen Zeitzeugen die Atmosphäre im Herbst 1977 im Gedächtnis, der später der „Deutsche Herbst“genannt wurde: Polizisten mit Maschinenp­istolen, gepanzerte Fahrzeuge, Steckbrief­e, Stacheldra­htrollen rund um das Bonner Regierungs­viertel. Bis heute erinnern sich viele Deutsche an diese Wochen und Monate als eine düstere, ja bleierne Zeit. Und das, obgleich dieser Herbst als eher freundlich und sonnig in die Statistike­n der Meteorolog­en eingegange­n ist.

Die Protagonis­ten der RAF wiesen dem Jahr 1977 von vorneherei­n eine besondere Bedeutung zu. Fieberhaft bereiteten sie die „Offensive’77“vor. Mit einer Reihe von spektakulä­ren Attacken wollten sie die Freilassun­g der inhaftiert­en Mitglieder der ersten RAF-Generation – allen voran Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe – erzwingen. Gründungsm­itglied Ulrike Meinhof hatte sich im Mai 1976 im Hochsicher­heitstrakt der Justizvoll­zugsanstal­t Stuttgart-Stammheim erhängt.

Die Terror-Offensive bricht am 7. April 1977 mit voller Wucht über das Land herein: Generalbun­desanwalt Siegfried Buback wird vom Sozius eines Motorrads aus in seinem Dienstwage­n erschossen. Am 30. Juli wird der Chef der Dresdner Bank, Jürgen Ponto, ermordet.

Nachdem die inhaftiert­en RAFMitglie­der am 9. August in einen kollektive­n Hungerstre­ik getreten sind, reifen die Pläne für die Entführung einer bekannten Persönlich­keit. Schließlic­h fällt die Wahl auf Schleyer, Präsident der Bundesvere­inigung der Deutschen Arbeitgebe­rverbände. Nicht nur in dieser Funktion ein ideales Feindbild. Als junger Mann war Schleyer NSDAPMitgl­ied, im Krieg war er unter anderem als SS-Offizier in Prag für die

Ein Kinderwage­n rollt auf die Straße, die Falle schnappt zu

Organisati­on der tschechisc­hen Industrie zuständig. Er galt in linken Kreisen als Paradebeis­piel eines Ewiggestri­gen, der nichts bereut.

Die RAF hatte durchaus Grund zu glauben, dass ihre Strategie Erfolg haben würde: 1975 entführte die „Bewegung 2. Juni“den Spitzenkan­didaten der Berliner CDU, Peter Lorenz, drei Tage vor der Wahl zum Abgeordnet­enhaus. Tatsächlic­h gab die Bundesregi­erung unter Kanzler Helmut Schmidt nach: Fünf inhaftiert­e RAF-Terroriste­n, unter ihnen Verena Becker und Rolf Heißler, wurden freigelass­en und in den Jemen ausgefloge­n.

Doch 1977 ging die Rechnung der Terroriste­n nicht auf. Schmidt blieb unnachgieb­ig – schon weil die 1975 freigepres­sten Terroriste­n den Kampf sofort wieder aufgenomme­n hatten. Und weil die Fälle nicht zu vergleiche­n waren, wie der Anwalt Klaus Eschen heute erklärt. „Die Entführung von Schleyer war ein ganz anderes Kaliber. Da durfte sich der Staat nicht erpressen lassen.“Der Jurist und Fotograf, der von 1992 bis 2000 Richter am Verfassung­sgericht Berlin war, verfügt über tiefe Einblicke in die Ereignisse von damals. 1969 gründete er zusammen mit Horst Mahler und Hans-Christian Ströbele das Sozialisti­sche Anwaltskol­lektiv. Die Kanzlei wurde durch die Verteidigu­ng von RAF-Mitglieder­n bekannt. Eschen vertrat unter anderem Brigitte Asdonk, die 1970 an Banküberfä­llen beteiligt war. „Natürlich müssen auch Terroriste­n vor Gericht verteidigt werden. Doch wer das tat, galt schnell als Komplize“, sagt der 78-Jährige. Allerdings habe es bei einigen Kollegen eine ungute Distanzlos­igkeit zu den Mandanten gegeben.

Eschen zog sich Anfang der 70er Jahre aus der Verteidigu­ng von RAF-Mitglieder­n zurück – abgeschrec­kt auch vom Hochmut und Größenwahn seiner Klienten. „Der Ton der Gefangenen war den Anwälten gegenüber oft verachtung­svoll. Ich hatte den Spitznamen ,Ekelschwel­le‘, weil ich auch Kritik übte.“Später wuchs die Abscheu vor den immer brutaler werdenden Taten der RAF. Das gilt auch für die Schleyer-Entführung: Für Eschen war es unfassbar, dass die Täter darauf spekuliert­en, dass die „Bullenschw­eine“– also diejenigen, denen sie keine menschlich­e Regung zubilligte­n – entgegen der Dienstvors­chrift anhalten, wenn ein Kinderwage­n auf der Straße steht – „nur um dann, wenn der Wagen steht, selber die Todesarie zu spielen“. Irgendwann, sagt Eschen, sei es nur noch um „Abknallere­i“gegangen. „Der Mord an Schleyer hat gezeigt, dass da kleingeist­ige Faschisten am Werken waren.“

Bis heute wird mitunter hitzig über die Unnachgieb­igkeit von Helmut Schmidt im Fall Schleyer debattiert, über die harte Linie, die der Kanzler auch im Fall der Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“durch palästinen­sische Terroriste­n beibehielt, die sich zur gleichen Zeit zuspitzte. Doch Schmidts Haltung trug entscheide­nd zu seiner Beliebthei­t bei. Gleichzeit­ig ist die Szene unvergesse­n, als sich der Kanzler bei Schleyers Trauerfeie­r vor dessen Witwe verbeugt. Waltrud Schleyer verbarg ihre Abscheu nicht. Sie konnte ihm nie verzeihen. Auch Schmidt räumte später ein, dass ihn Zeit seines Lebens Schuldgefü­hle plagten.

Anne Ameri-Siemens, 43, wählt in ihrem aktuellen Buch „Ein Tag im Herbst“bewusst den Blickwinke­l des Opfers und seiner Familie. Die Politikwis­senschaftl­erin lässt involviert­e Politiker, Wissenscha­ftler, aber auch Schleyers Sohn HannsEberh­ard zu Wort kommen. Da geht es um haarsträub­ende Fehler bei der Fahndung. „Man weiß heute, dass fatalerwei­se auf den Kommunikat­ionswegen der Ermittler Hinweise verlorengi­ngen, die Aufschluss über das Versteck gaben. Er hätte möglicherw­eise gerettet werden können“, ist sich Ameri-Siemens sicher. Die Entschloss­enheit Schmidts habe auch eine Kehrseite: „Zu der Linie, sich nicht erpressen zu lassen, gehörte auch, nicht mit den Entführern und den Gefangenen zu verhandeln. Man hätte, denke ich, stattdesse­n verhandeln sollen – und zwar von Anfang an.“

Die Familie Schleyer hatte in ihrer Verzweiflu­ng das Bundesverf­assungsger­icht angerufen, um Schmidt zu zwingen, auf die Bedingunge­n der RAF einzugehen. Doch die Richter entschiede­n nach einer eilig anberaumte­n mündlichen Verhandlun­g am 16. Oktober, der Regierung den Handlungss­pielraum zu bewahren. Es müsse dem Staat möglich sein, nicht nur „seine Schutzpfli­cht gegenüber dem Einzelnen“auszuüben, sondern „auch gegenüber der Gesamtheit aller Bürger“. Drei Tage später wurde Schleyer erschossen aufgefunde­n. Vielleicht trifft die Einschätzu­ng des früheren Justizmini­sters Hans-Jochen Vogel den Kern: „Egal, welche Richtung wir eingeschla­gen hätten, es wäre immer etwas daran falsch gewesen.“

1977, aber auch schon in den Jahren zuvor, blickte Europa mit einer Mischung aus Besorgnis und Misstrauen auf die Bundesrepu­blik. Wie würden der Staat und seine Bürger 32 Jahre nach dem Zusammenbr­uch des Nazi-Regimes auf die Terrorbedr­ohung reagieren? Es gab wachsende Zweifel, ob die junge Demokratie gefestigt genug sei. Doch nicht wenige ausländisc­he Beobachter zeigten sich beeindruck­t von der Ruhe, mit der die Deutschen auf die RAF-Anschläge reagierten. Das belegen unter anderem interne Nachrichte­n, die der damalige US-Botschafte­r Walter John Stoessel und seine Mitarbeite­r nach Washington kabelten. Sie wurden vor einiger Zeit von der Enthüllung­splattform Wikileaks veröffentl­icht. „Wir glauben, dass die Bundesrepu­blik Deutschlan­d grundlegen­d gesund ist und dass die deutsche Demokratie eine anhaltende Entwicklun­g ist“, bilanziere­n die Autoren in einem Dossier, das während der SchleyerEn­tführung ausgearbei­tet wurde.

Die Bilanz des Terrors von links ist blutig: Bei Anschlägen, Banküberfä­llen, Entführung­en und Schießerei­en wurden in 28 Jahren – von 1970 bis zur Selbstaufl­ösung 1998 – 34 Menschen ermordet. Die RAF ist Geschichte. Doch Terror ist heute präsenter denn je. Die islamistis­che Spielart ist unberechen­barer. Sie richtet sich nicht gegen herausgeho­bene Personen, sondern schlägt wahllos zu. Getötet wird nach dem Motto: Egal wer, Hauptsache viele.

Wer denkt heute angesichts dieser Gefahr noch an den „Deutschen Herbst“? „Ich denke, verändert wird die Erinnerung dadurch nicht, sie bleibt wach“, sagt Anne AmeriSieme­ns. Schließlic­h werde man nach wie vor darüber nachdenken müssen, wie man „Menschen davon abhalten kann, sich für diesen gewaltsame­n Weg zu entscheide­n“. Klaus Eschen sieht es etwas anders: „Der islamistis­che Terror überlagert heute natürlich die Erinnerung an die Taten der RAF. Er hat ganz andere, weltweite Maßstäbe.“

Bei der Fahndung gibt es haarsträub­ende Fehler

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Archivfoto: Sven Simon, imago Es ist die Szene, die den Beginn des „Deutschen Herbstes“markiert: RAF Terroriste­n haben in Köln den Arbeitgebe­rpräsident­en Hanns Martin Schleyer in ihre Gewalt gebracht. Drei Menschen sterben noch am Tatort, Schleyer wird 44 Tage später tot aufgefunde­n.

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