Die Frage der Woche Wahlpflicht einführen?
Es gibt genau drei prinzipielle Gründe, nicht wählen zu gehen. 1. Man lebt in dem (im Vergleich unfassbar großartigen) Luxus, dass einen einfach nicht zu interessieren braucht, was im Staat und in der Politik so los ist.
2. Man kann keiner der (bei dieser Wahl antretenden 42) Parteien annähernd so zustimmen, dass man sein Kreuzchen dafür hergeben würde.
3. Man hat den Glauben an das Funktionieren des Systems von Wählen und Regieren im Allgemeinen verloren.
Das Interessante ist: Nur der erste Grund wäre ein Argument gegen eine allgemeine Wahlpflicht. Die anderen beiden fallen weg, weil als Protest oder als Zeichen, sich nicht mehr repräsentiert zu fühlen, etwas anderes viel wirkungsvoller wäre: Man stelle sich vor, 30, 40 Prozent oder mehr werfen ihre Wahlzettel leer ein – das wäre ein starkes Symbol (man vergleiche José Saramagos Roman „Stadt der Sehenden“). Der Wahlsieger ginge nicht mit 40 Prozent hervor, obwohl überhaupt nur 50 Prozent abgestimmt haben – und man hätte einen besseren Pegelmesser für die Unzufriedenheit der Bürger. Denn das Nichtwählen kann ja immer auch bedeuten, den Leuten geht’s zu gut, als dass sie sich noch Gedanken machen müssten, wo sie leben.
Und damit sind wir zurück beim ersten Argument, das ja gerne von bedenklichem Geraune kaschiert wird: Widerspricht die Pflicht nicht unserer Freiheit? Darf Demokratie Zwang sein? Aber wer kapiert, dass die allgemeine Freiheit des Bürgers erst aus der Demokratie entsteht, der weiß auch: Es ist niemals Freiheit, die gegen das Wählen stehen kann, sondern nur immer bloß Willkür; denn gerade die Freiheit verpflichtet. Und so muss im Sinne der Demokratie unsere Gesellschaft ein Zeichen gegen die Willkür setzen. Ja, aus Prinzip!
In Deutschland neigt man zur Pflicht – einerseits. Es gibt eine Streupflicht und eine Gurtpflicht. Und am liebsten hätten die Bürgerbeglücker in ihrer paranoiden Fürsorglichkeit auch eine Helmpflicht für Radfahrer. Aber andererseits hat man auch erlebt, dass Pflichten wieder abgeschafft werden, siehe die Wehrpflicht. Wie in vielen offenen Gesellschaften ist es bei uns im Spannungsfeld zwischen Rechten und Pflichten nie langweilig.
Wahlpflicht? Klingt zunächst verlockend, weil die Idee Charme hat, all den Maulern, Besserwissern und Gewohnheitsfrustrierten, die sich auch am Wahltag hinter dürftigem Gemurre verschanzen, etwas abzuverlangen, indem man sie zu ihrer staatsbürgerlichen Verantwortung anhält. Aber wollen wir wirklich die Folgen einer Wahlpflicht? Kontrolle, Rechtfertigungsdruck, Sanktionen? Filmt de Maziere dann vor den Wahllokalen und macht Häkchen auf Listen? Zwar bedeutete Wahlpflicht nicht einmal in Bayern, dass man dann die CSU ankreuzen muss – es gäbe ja auch die Möglichkeit, ungültig zu wählen. Bei den Urnengängen zeigt die Tendenz der Wahlbeteiligung nach einigen Durchhängern zuletzt wieder deutlich nach oben. Ein Beleg dafür, dass die Leute ihr Recht wahrnehmen, wenn sie das Gefühl haben, dass es um etwas geht und dass ihre Stimme zählen könnte.
Die Wahlbeteiligung ist ein wichtiger Indikator für die Lage des Landes – ein Thermometer, das die Fieberkurve der Demokratie anzeigt. Das Werben um Nicht- und Erstwähler möchte man als Motivation von Parteien und Kandidaten nicht missen. Noch immer die beste aller Wahlpflichten ist jene, aus freien Stücken Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwesen wahrzunehmen und in Mitverantwortung für die Zukunft seine Stimme abzugeben.