Der Drang, unsterblich zu werden
Der Zeichner Reinhard Kleist erzählt die Geschichte des Musikers Nick Cave und findet dafür eine ungewöhnliche Form
Augsburg Wie bringt man Zeichnungen zum Klingen? Reinhard Kleist, seit Jahren einer der ganz Großen unter den deutschen Comickünstlern, hat Erfahrung damit. Live zeichnet er bei Konzerten – mal Songs von Johnny Cash, mal ägyptischen Pop oder singhalesische Folklore. Dabei geht er über die reine Illustration hinaus, nutzt die eigenen Bilder im Kopf, um die Liedtexte in Szene zu setzen. Bei einem Konzert des australischen Sängers Nick Cave hat Reinhard Kleist zwar noch nie gezeichnet. Trotzdem hat er sich sehr intensiv auseinandergesetzt mit den düsteren Balladen des Australiers, der kürzlich seinen 60. Geburtstag feierte. Denn in seiner Graphic Novel „Mercy on Me“erzählt Kleist von Cave, seinen Songs und dem Mythos, der sich schon zu Lebzeiten um den Musiker und Schriftsteller gesponnen hat – und lässt dabei die Grenzen zwischen realer Biografie und Fiktion raffiniert verschwimmen.
Im Genre der gezeichneten Biografien ist Reinhard Kleist, 1970 geboren, sozusagen zuhause. Schon während seines Studiums an der Fachhochschule für Grafik und Design in Münster widmete er eine Comicerzählung dem Schriftsteller H.P. Lovecraft und wurde dafür mit dem renommierten Max und Moritz Preis ausgezeichnet. Viel beachtete Bio-Comics über Fidel Castro, Johnny Cash und Elvis Presley folgten. Großen Erfolg hatte er mit der gezeichneten Geschichte über Hertzko Haft, der als Boxer das KZ in Auschwitz überlebte. In „Der Traum von Olympia“beschreibt er die Tragik um die somalische Läuferin Samia Omar, die während ihrer Flucht nach Europa ums Leben kam. Immer erzählt er dabei nicht nur linear eine Biografie nach, sondern mischt Reales und Irreales.
Auch in „Mercy on Me“greift Reinhard Kleist auf diese Methode zurück und verfeinert sie zu einem großartigen Konglomerat aus Tatsachen, Assoziationen und Interpretation. Die fünf Kapitel des 300-Seiten-Buches tragen Titel aus dem Werk Caves. Figuren wie der Ausreißer aus „The Hammer Song“, der Todeskandidat aus „The Mercy Seat“und Euchrid Eucrow aus seinem Romandebüt „And The Ass Saw The Angel“werden zu Protagonisten des Comics, erzählen von ihrer Entstehung, ihrem Schöpfer und seiner Lebensgeschichte. Ihren Urheber selbst lässt der Zeichner immer wieder in die Rolle seiner Figuren schlüpfen, wie etwa die des mörderischen Liebhabers in „Where the Wild Roses Grow“. Auf diese Weise folgt der Leser dem jungen Nick Cave, aus dem „australischen Provinznest Warracknabeal“ins punkige London der frühen 80er und schließlich nach Westberlin, wo er auf Blixa Bargeld, den Sänger der Band Einstürzende Neubauten trifft und mit ihm und seinem Freund aus Schultagen, Mick Harvey, The Bad Seeds gründet.
Das Werk Nick Caves wird auf diese Weise in Reinhard Kleists Graphic Novel zum Spiegel des Lebens, die Verbindung von Künstler und Werk, die ja auch ein Teil des von Nick Cave selbstinszenierten Mythos ist, legt Reinhard Kleist dabei offen als den Drang, durch den schöpferischen Akt unsterblich zu werden. Förmlich explodierende Konzertszenen, die Posen des Rebellen und Outlaws, der inmitten seiner Manuskripte sitzende Cave, durch dessen Adern schwarze Tinte fließt sind markante Bilder, die Kleist dafür findet.„Ich wollte den Mann und seinen Drive erklären“. Dies gelingt ihm in kantigen, schroffen Schwarz-Weißbildern, die dem Betrachter in ihrer Expressivität förmlich ins Auge springen, und immer wieder zugunsten ganz- und doppelseitiger Zeichnungen die klassische Panel-Struktur des Comics auflösen.
So hat Reinhard Kleist zweifelsohne eine faszinierende Form gefunden, einem exzentrischen und komplexen Charakter wie Nick Cave gerecht zu werden. Wie er dabei aber auch an dessen Inszenierung zum Mythos mitarbeitet zeigt vielleicht die Bemerkung, die Cave für den Klappentext des Buches geschrieben hat: „Ein beängstigendes Husarenstück aus Cave-Songs, historischen Halbwahrheiten und herrlichen Hirngespinsten“.
» Reinhard Kleist: Nick Cave – Mercy On Me. Carlsen, 328 Seiten, 24,99 Euro