Die Welt zwischen zwei Buchdeckeln
Ein humorvolles wie angriffslustiges Quintett bietet Literatenkunde vom Feinsten. Dabei überrascht ein Kritiker sogar mit Sangeskunst im Lebenscafé in Dillingen
Dillingen Sekt und Wasser waren gekühlt, leckere Häppchen verdeckt angerichtet. Den größten Leckerbissen des Abends gab es gleich in den ersten Minuten: Unter Fanfarenklängen marschierten die kompetentesten Literaturkritiker der Region in den Raum beim Lesecafé ein und wirkten dabei ein wenig wie Gladiatoren beim Einzug in die Arena. Nur dass die Waffen der strahlenden Mitglieder des „Literarischen Quintetts“aus deren „Mundwerk“und geballtem Literatenwissen geschmiedet sind. Zwei Wochen vor der weltweit wichtigsten Buchmesse in Frankfurt: Fünf Buchkenner verführten ein begeistertes Publikum zwei Stunden lang in die grandiose Welt zwischen den beiden Buchdeckeln. Am Ende der höchst gelungenen Veranstaltung wollte ans Ende kaum jemand denken, wie Gastgeberin und Mitwirkende Brigitte Schöllhorn feststellte.
Kein Wunder. Lieferten sich die hochkarätigen Literaturkritiker doch hochdynamische und bisweilen sehr humorvolle Diskurse nach der Präsentation der insgesamt fünf Werke, deren Mischung kaum interessanter, wichtiger, bunter und spannender ausfallen konnte. So verstanden es neben Schöllhorn Erich Pawlu, Ursula Poser, Marcus B. Hartmann und Ulrich Demmer in glänzender Weise, ihre favorisierten Bücher gut fundiert zu würdigen wie andere in Bausch und Bogen zu verdammen. Dabei saßen die Protagonisten auf der „Bühne“, vor der die Stadtbüchereichefin einen nicht ganz voll belegten Gästeraum begrüßen konnte. Die Führungsstarke: Brigitte Schöllhorn gab nicht nur in der Rolle der Buchkritikerin eine gute Figur ab, sondern wusste sich auch als Moderatorin charmant wie bestimmt durchzusetzen. Der Klavierkomponist: Marcus Bernard Hartmann sezierte als begnadeter Musiker und Textanalyst jede Note der an diesem Abend vorgestellten Literatur-Melodien. Die Einfühlsame: Buchhändlerin Ursula Poser drang mit ihrer sensiblen Sensorik tief in die Handlungen ein und setzte eine besondere weibliche Note gegenüber den zahlenmäßig überlegenen Mannsbildern im Saal. Schließlich entspannen sich immer wieder köstliche Dialoge zwischen dem Feingeist und Buchexperten Ulrich Demmer sowie dem lebenserfahrenen und erfolgreichen Publizisten Erich Pawlu.
Von Letzterem kannte man zwar dessen zigfach preisgekröntes Schreiben, jedoch eher weniger die Gesangskünste. So spendierte Pawlu zu seiner Präsentation von Julian Barnes „Der Lärm der Zeit“ein paar Takte des weltbekannten Walzers Nummer zwei von Dmitrij Schostakowitsch, der auch im Mittelpunkt des großartigen Künstlerromans steht. Die Darstellung eines von Repressionen geprägten Lebens fand der Bundesverdienstkreuzträger „einfach gut erzählt“. Während Schöllhorn „jede Einzelseite für lesenswert“hielt und Ursula Poser „das Menscheln in dem Buch mit Dillinger teils unheimlichen Szenen“hervorhob, blieb Hartmann ein wenig skeptisch: „Ich habe mich gefragt: Warum ein Roman und nicht eine Biografie? Vieles ist da in ein wahres Leben hineinkonstruiert.“
Als einen „starken und ganz wichtigen Band“befand Buchhändler und „Anstifter zum Lesen“Ulrich Demmer das faszinierende wie bestürzende Werk, bevor er selbst Christoph Ransmayrs „Cox oder der Lauf der Zeit“hervorzückte. Den farbenprächtigen Roman des Österreichers über einen maßlosen Kaiser und einen englischen Uhrmacher nannte er „ein zauberhaftes, schillerndes Buch zum Thema Zeit“. Brigitte Schöllhorn wollte durch „die facetten- wie bildreiche Sprache“sogar alle beschriebenen Gegenstände genau erkennen. Poser: „Hier hat mir jeder Satz gutgetan.“Erich Pawlu erkannte trotz des „großartigen Stils“ein paar gravierende Mängel.
Mit jedem weiteren Buch redeten sich die bestens aufgelegten Quintett-Mitglieder langsam zu Höchstform, bevor der Pianist und Hermann-Hesse-Kenner Marcus B. Hartmann zum „vierstündigen Ausruhen in der Hängematte“riet. Grund war der von ihm rezensierte, nur 140 Seiten lange Roman „Ein Festtag“des britischen Schriftstellers Graham Swift. Der Autor lässt das Dienstmädchen Jane Fairchild im Jahr 1924 leichtfüßig und nackt durch das leere Herrschaftshaus streifen. „Legen Sie das Handy beiseite und lesen Sie dieses sehr sinnliche wie plausible Buch, das korrekterweise als Novelle bezeichnet werden muss“, bat er die Besucher, die sich über manche „Zweikämpfe“der Kritiker köstlich amüsierten. Auch, als – von Demmer angestoßen – eine nicht ganz ernst gemeinte Debatte um das Entblößtsein im Alltag einsetzte. „Morgen laufen wir alle nackt herum“, unkte einer.
Kulturtage