Stille Brunnen sind tief
Orhan Pamuk Ödipus in Istanbul: Meisterhaft spielt der Nobelpreisträger mit dem Schicksal
„Wie seltsam es doch war, überhaupt zu leben.“
Man nennt ja eine Geschichte auch deswegen Legende, weil sie einem selber zustoßen wird.“Gegen Ende dieses Romans, im dritten Teil, pocht dem Leser das Herz. Das Erzähltempo hat angezogen, das Schicksal beschleunigt sich zu einer Macht, und wir hängen an den Lippen jener rothaarigen Frau, die die Schlüsselfigur in einer Geschichte um Väter und Söhne ist und uns die Augen öffnet. Leben und Legende verschwimmen. Es hieße, den Spannungsbogen des Buches zu zerstören, würde man hier verraten, wer in Orhan Pamuks neuem Roman „Die rothaarige Frau“überlebt und wen die schicksalhafte Vorbestimmung einholt.
Die Legende von Ödipus, der zum Mörder seines Vaters und zum Mann der eigenen Mutter wird, sickert fast unbemerkt in diesen kunstvoll komponierten neuen Roman von Orhan Pamuk. Ödipus ist aber nur der eine Pol. Der Gegenpol: Das persische Epos „Schahname“, in dem von einem Vater, Rostam, erzählt wird, der auf unglückselige Weise seinen eigenen Sohn Sohrab tötet. Wie Orhan Pamuk diese Mythen zum inneren Gerüst seines Romans macht, ist bewundernswert. Schauplatz des Romans ist Istanbul, die wuchernde Stadt. Wie zuletzt in seinem wunderbaren Roman „Diese Fremdheit in mir“erzählt Pamuk seine Familien- und Liebesgeschichte wieder vor dem Hintergrund der rasanten Veränderungen in den vergangenen Jahrzehnten, die Istanbul zu einer unersättlichen urbanen Krake gemacht haben. Bauboom, Spekulation, rasantes Wachstum – die Stadt hat sich Dörfer, Land und wilde Siedlungen im Umkreis vieler Kilometer einverleibt. Das Tempo der Modernisierung hat das Leben der Menschen radikal verändert. Dass Mythen machtvoller sind als Fortschritt, steht auf einem anderen Blatt.
Wasser ist der Stoff, der aus Brachland Zukunft macht. Von Hand einen Brunnen zu graben, wie das in den 1980er Jahren noch üblich war, ist eine langwierige Sache. Es kostet nicht nur Kraft und Geduld – vor allem darf man den Glauben daran nicht verlieren, an der Stelle der Wahl tatsächlich auf Wasser zu stoßen. Es kann Wochen dauern, nur mit Spaten und Hacke und einem Eimer für den Aushub zu arbeiten. Exerzitien der Wiederholung, ein Kreislauf von Hoffnung, Zähigkeit und Erschöpfung. Harte Gesteinsschichten bremsen aus, der Schacht muss immer wieder mit Beton verschalt werden, es geht nur mühsam in die Tiefe, ein Kampf Meter um Meter. Zweifel untergraben die Moral, es wird immer gefährlicher, aber Aufgeben geht nicht, irgendwann muss Wasser kommen …
Orhan Pamuk verlangt dem Leser zunächst die Geduld und Aufmerksamkeit eines Brunnenbauers ab. Über hundert Seiten entschleunigt der Nobelpreisträger seine Geschichte von Cem, der durch Zufall Lehrling des erfahrenen Brunnenbauers Mahmut wird, den er nur „Meister“nennt und der für ihn zu einer Vaterfigur wird. Cems wirklicher Vater, ein Kommunist, in der Türkei verfolgt und gefoltert, hat die Familie und seine Apotheke verlassen. Während Cem und Meister Mahmut im Auftrag eines Unternehmers zusammen auf einer kahlen Ebene vor Istanbul nach Wasser graben, verliebt sich der junge Cem im Ort, Öngören, in eine rothaarige Frau, die doppelt so alt ist wie er – eine Schauspielerin, die jeden Abend in einem Theaterzelt in der Garnisonsstadt auftritt. Die kommunistische Truppe spielt dort auch die Legende von Rostam und Sohrab. Auch Meister Mahmut war einmal in diesem Zelt. Cem, 17, verbringt eine Nacht mit der rothaarigen Schauspielerin – und er flieht aus Öngören, nachdem ihm in einem Moment der Unachtsamkeit ein Eimer mit Gestein in den Brunnenschacht fällt, wo Mahmut arbeitet. Danach kein Lebenszeichen mehr von unten. „Ich trat noch einen Schritt näher an den Brunnen, doch hatte ich Angst hinabzuschauen. Als würde ich blind davon werden.“Ödipus hatte sich geblendet, als er erkannte, was er getan hatte.
Cem lebt bei seiner Mutter in Istanbul, studiert, er gründet schließlich eine immer erfolgreicher werdende Firma, heiratet, doch die Ehe bleibt kinderlos. Die Zeit vergeht, Cem trifft seinen verschwundenen Vater wieder. In all den Jahren lebt Cem mit seiner Schuld – er ist überzeugt, dass er den Brunnenbauer auf dem Gewissen hat. Cem verdrängt – und er entwickelt ein obsessives Interesse an der Geschichte von König Ödipus und, nach einem Besuch in Teheran, an der „Schahname“und dem Motiv des Vaters, der unwissentlich seinen Sohn tötet. „Insgesamt gesehen führte ich ein gewöhnliches, eher überdurchschnittlich erfolgreiches Leben. Dir gelingt es also wirklich, so zu tun, als ob nichts wäre, sagte ich mir manchmal.“
Doch Jahrzehnte nach dem Unfall am Brunnen kehrt Cem 2015 nach Öngören zurück, weil seine Firma, die er „Sohrab“genannt hat, dort Wohnungen baut. Den Ort erkennt er kaum wieder. Und doch gibt es dort Menschen, die seine Vergangenheit kennen. Meister Mahmut, erfährt Cem, hatte damals wirklich Wasser gefunden, er grub noch mehrere Brunnen, sie verehrten ihn wie einen Heiligen. Dann bekommt Cem eine Nachricht, in der jemand behauptet: Ich bin dein Sohn… Die rothaarige Frau, inzwischen über 60, tritt auf. Sie kannte Cems Vater, den marxistischen Apotheker. Dort, wo alles begann, an Meister Mahmuts altem Brunnenschacht, längst überwuchert von einer stillgelegten Textilfabrik, kommt es zum Augenblick der Wahrheit und zum Showdown.