Donau Zeitung

Rückt die türkische Justiz von harter Linie ab?

Am Bosporus deutet sich ein Umschwung bei Verfolgung von Regierungs­kritikern ab. Das Berufungsg­ericht schreitet ein. Beobachter sprechen von ersten Schritten hin zu einer Normalisie­rung

- VON SUSANNE GÜSTEN Hürriyet. Hürriyet-Journalist

Istanbul In der Türkei deutet sich ein Abrücken von der bisherigen harten Linie bei der Verfolgung Andersdenk­ender und von Regierungs­kritikern an. Nach einem Urteil des Berufungsg­erichts, das regierungs­treuen Richtern und Staatsanwä­lten erstmals Grenzen setzt, werden laut Presseberi­chten „wichtige Veränderun­gen“in der Justiz erwartet. Auch ein informelle­s Treffen des türkischen Außenminis­ters Mevlüt Cavusoglu mit seinem deutschen Kollegen Sigmar Gabriel am Wochenende in Antalya gehört zu den Signalen, die auf ein Ende der kompromiss­losen Haltung Ankaras hindeuten.

Die Entlassung von 150 000 Staatsbedi­ensteten und die Inhaftieru­ng von mehr als 50 000 Verdächtig­en seit dem Putschvers­uch des vergangene­n Jahres wird nicht nur im westlichen Ausland, sondern auch in der Türkei immer lauter kritisiert. Bisher argumentie­rte Ankara, bei der Suche nach den Schuldigen des Umsturzver­suches werde eine Art Schleppnet­z-Taktik angewendet, bei der vorübergeh­end mehr Menschen in die Fänge der Justiz geraten, als am Ende rechtskräf­tig verurteilt werden. Doch diese Haltung gerät immer mehr unter Druck.

Inzwischen reiche in der Türkei eine Denunziati­on durch einen anonymen Anrufer oder durch die Regierungs­presse, um in Haft zu kommen, kritisiert­e der Kolumnist Murat Yetkin in der Dabei bestehe das einzige Vergehen vieler Beschuldig­ter wie des kürzlich verhaftete­n Geschäftsm­annes und Kulturmäze­ns Osman Kavala darin, dass sie anders seien, als die Regierung sich das wünsche.

Zuletzt hatte das Verfahren gegen den Berliner Menschenre­chtler Peter Steudtner und zehn weitere Aktivisten die Zweifel an der Justiz verstärkt: Die Beschuldig­ten wurden über Monate unter schwersten Vorwürfen staatsfein­dlicher Aktivitäte­n in Haft gehalten und von der regierungs­nahen Presse als Aufrührer beschimpft, dann aber angesichts der offensicht­lich absurden Vorwürfe gleich am ersten Verhandlun­gstag freigelass­en.

Nun deutet sich an, dass in der türkischen Justiz ein Umdenken einsetzt. Der Oberste Berufungsg­erichtshof setzte den Behörden vorige Woche in einem Grundsatzu­rteil klare Grenzen für die Verfolgung mutmaßlich­er Putschanhä­nger. Demnach müssen Staatsanwä­lte und Richter konkrete Beweise für eine Mitgliedsc­haft eines Verdächtig­en in der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen vorlegen, die für den Putschvers­uch verantwort­lich gemacht wird. In dem vorliegend­en Fall war ein Mann unter anderem deshalb zu sechs Jahren Haft verurteilt worden, weil er eine zur GülenBeweg­ung gehörende Zeitung abonniert hatte. Das reiche nicht für eine Verurteilu­ng, entschiede­n die Beru- Der Mann wurde freigelass­en. Einige Kommentato­ren rechnen nun damit, dass jetzt weitere Freilassun­gen folgen, weil viele mutmaßlich­e Regierungs­gegner in den vergangene­n anderthalb Jahren auf der Basis ähnlich fragwürdig­er Beweise in Haft gekommen sind. Zugleich soll Ministerpr­äsident Binali Yildirim im Kabinett gesagt haben, der Ausnahmezu­stand, der die Verfolgung angebliche­r Regiefungs­richter. rungskriti­ker erheblich erleichter­t, erschwere den Normalbürg­ern das Leben und schade dem Image der Türkei im Ausland. „Das sind gute Nachrichte­n“, kommentier­te der Journalist Fehmi Koru, ein ehemaliger Anhänger von Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan, der sich seit einigen Jahren von der Regierung distanzier­t.

Auch bei den rund 150 inhaftiert­en Journalist­en, darunter auch der deutsch-türkische Reporter Deniz Yücel, zeichnen sich Erleichter­ungen ab. Der Abdulkadir Selvi, der für seine exzellente­n Kontakte zu der Regierung in Ankara bekannt ist, schrieb kürzlich, das „Klima“hinsichtli­ch der inhaftiert­en Journalist­en und Intellektu­ellen wandele sich. „In der Justiz spielen sich wichtige Veränderun­gen ab“, betonte Selvi. „Es werden Schritte hin zur Normalisie­rung eingeleite­t.“Details könne er noch nicht nennen.

Möglicherw­eise hängt die Entwicklun­g auch mit anstehende­n Urteilen des Europäisch­en Menschenre­chtsgerich­tshofes zusammen, die in den kommenden Wochen erwartet werden und an die sich die Türkei als Mitglied des Europarate­s halten muss. Den Straßburge­r Richtern liegen Klagen von Yücel und mehreren inhaftiert­en Journalist­en der Opposition­szeitung „Cumhuriyet“vor. Allgemein wird mit Urteilen zugunsten der Journalist­en gerechnet, die zum Teil seit mehr als einem Jahr ohne Urteil in Haft sitzen; bei Yücel gibt es nicht einmal eine Anklagesch­rift.

Grundsatzu­rteil setzt den Verfolgern klare Grenzen

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Foto: Cem Ozdel, dpa Der deutsche Außenminis­ter genießt die milden Temperatur­en in der Türkei bei sei nem Treffen mit dem Amtskolleg­en Mevlüt Cavusoglu.

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